Soziale Gerechtigkeit

Wie Kinderarmut erfolgreich bekämpft werden kann

Karin Billanitsch21. September 2016
Mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche gelten als arm. Wie Kommunen mit Netzwerken und Präventionsketten ­erfolgreich gegensteuern können. Beispiele aus Berlin, Düren und Dormagen zeigen, wie es gehen kann.

Kurz nach zwölf Uhr Mittags. Langsam füllt sich der schlicht gehaltene Speisesaal im Erdgeschoss einer ehemaligen Grundschule in Berlin-Hellersdorf. Die neue glitzernde Mitte Berlins mit Restaurants und Theatern, schicken Lofts und renovierten Altbauwohnungen ist weit weg. Es ist eine andere Welt, nur eine halbe Stunde Fahrt vom Alexanderplatz. Viele junge Frauen mit kleinen Kindern essen zu Mittag, es gibt Nudeln mit Tomatensauce. Vereinzelt sieht man auch ein paar Männer über dem Tellergericht sitzen. Petra isst gemeinsam mit ihrem sechsjährigen Sohn Alex (alle Namen von der Redaktion geändert) täglich hier. Am Nachmittag bleibt er in dem Gebäude: bastelt, kickert oder spielt mit seinen Freunden auf dem Gelände Fußball. Im Herbst, wenn er in die Schule kommt, kann er am Nachmittag in die Hausaufgabenbetreuung gehen. Die „Arche – Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V.“, kurz „Arche Berlin“, betreut bis zu 300 Kinder täglich – kostenlos.

Keine Kita- oder Hortplätze für die Kinder

Alex hat noch zwei Geschwister, alle kommen in die „Arche“. Noch sind die Älteren in der Schule. Ihre Mutter ist gelernte Bürokauffrau und arbeitet zur Zeit nicht, dafür aber ihr Mann. „Er ist 15 Stunden am Tag unterwegs, für die Kinder bin ich zuständig.“ In Hellersdorf habe sie für ihren Nachwuchs keine Hort- oder Kitaplätze gefunden, erzählt die Berlinerin. Seit die Kinder nachmittags ein paar Stunden betreut werden, bildet sie sich zur Altenpflegehelferin weiter. „Wenn der Kleine in die Schule kommt, will ich mir eine Stelle suchen“ erzählt die jung wirkende 35-Jährige. Sie ist verheiratet, damit ist sie unter den Müttern hier eher die Ausnahme. „Zu uns kommen zu 90 Prozent alleinerziehende Mütter“ sagt Wolfgang Büscher, zuständig für die Pressearbeit der „Arche“. „Die Frau sitzt am Stadtrand und kommt nicht weg“, erzählt Büscher. Schon ein Ticket des öffentlichen Nahverkehrs können sich die meisten nicht leisten.

Seine Beobachtungen untermauern die Ergebnisse mehrerer wissenschaftlicher Studien und Armutsberichte zur Kinderarmut in Deutschland. Insgesamt gibt es mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche, die in Armut leben müssen. Das größte Risiko, finanziell benachteiligt aufzuwachsen, haben die Kinder von Alleinerziehenden, so die Autoren einer Studie von Bertelsmann.

 In Deutschland gilt nach der gängigen EU-weiten Definition als arm beziehungsweise armutsgefährdet, wer ein Nettoeinkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung hat. Bei Alleinlebenden ist die Schwelle im Jahr 2015 laut Angaben des statistischen Bundesamts bei 11.840 Euro Euro im Jahr, also 987 Euro im Monat erreicht. Bei Alleinlebenden mit einem Kind unter 14 Jahren liegt sie bei 1250 Euro. Die zweite statistische Größe, mit der Armutsforscher arbeiten, ist der Bezug von sozialen Transferleistungen wie Sozialgeld oder Sozialhilfe.

„Arche Berlin“: „Die Kinder mit unseren Angeboten direkt erreichen.“

Büscher betont die Philosophie der „Arche“: „Wir wollen die Kinder mit unseren Angeboten direkt erreichen, nicht über den Filter Eltern.“ Nach rund 20 Jahren Arbeit der „Arche“ sind die Verantwortlichen überzeugt, dass sozial benachteiligte Kinder direkt gefördert und motiviert werden müssen, damit sie später nicht auch von Transferleistungen abhängig bleiben.

Auch Arzu, 24 Jahre alt, sitzt an ­einem der Resopal-Tische. Die junge Frau stammt aus dem Nordirak, sie sei Jesidin, sagt sie leise. Ihre drei Kinder, ein Junge und zwei Mädchen, sind zwischen gerade mal zwei und sechs Jahre alt. Sie ist gemeinsam mit ihrem Mann vor fünf Jahren, mit dem ersten Kind schwanger, nach Deutschland geflüchtet. „Wenn ich nicht hierher kommen könnte, würde ich nur zu Hause sitzen“, erzählt sie. Einen der Kitaplätze in diesem Viertel hat sie nicht ergattert. „Wir fahren bald ins Camp“, erzählt ihr Sohn Baran freudestrahlend, während er im Nudelteller stochert. Er freut sich auf die Woche Sommercamp, die die „Arche Berlin-Hellersdorf“ für ihre Kinder organisiert. Einige der Kinder, die in die „Arche“ kommen, kennen Urlaubsreisen nicht.

Zu Hause spricht die Familie nur Kurmandschi, doch Barans Deutsch ist gut. „Hier in der ‚Arche‘ achten wir darauf, dass nur Deutsch gesprochen wird“, betont Bernd Siggelkow, Gründer und Vorstand des christlichen Kinder- und Jugendwerkes. Siggelkow zitiert den finnischen Bildungsminister: In Finnland werden „Kinder wie Könige behandelt“. In seinen Augen müsste ein reiches Land an seinem Kinderreichtum festzumachen sein. Es fehle an Respekt und Wertschätzung. „Alleinerziehende werden auf den Ämtern als Nummer behandelt“, sagt der Pastor. 1995 hat er den Verein in Berlin-Hellersdorf gegründet, um sich um sozial benachteiligte Kinder und Familien zu kümmern.

Armutsprävention in der Kommune

In einer Großstadt wie Berlin müssen viele Akteure – freie Träger wie etwa die „Arche“, Wohlfahrtsverbände, kommunale Einrichtungen ihre Kräfte anstrengen, um gegen fehlende Chancengleichheit anzugehen. Der Berliner Senat hat mittlerweile eine Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut und Verbesserung gesellschaftlicher Teilhabechancen in Berlin beschlossen.

Aber auch mittlere und kleinere Städte müssen erst einmal erkennen, wo es bei ihnen überdurchschnittlich viel benachteiligt lebende Kinder gibt. Manche sind schon sehr weit, manche stehen dabei am Anfang. Beispiel Düren: Es ist erst ein paar Wochen her, dass im Haus der evangelischen Gemeinde der „Gipfel zur Kinderarmut“ stattfand. Eine Koalition aus SPD, Linken, Grünen und Freien Demokraten möchten ein „Handlungskonzept gegen Kinderarmut“ auf den Weg bringen. Jedes dritte Kind in Düren ist nach offiziellen Angaben von Armut betroffen.

Düren will künftig gezielt Mikro-Projekte fördern, die die Folgen von Kinderarmut bekämpfen oder ihr entgegenwirken. Es sind oft naheliegende Dinge, die helfen: Mit Gruppen von Kindern oder Jugendlichen Kulturinstitute besuchen, Schwimmlehrgänge organisieren, Fahrradgruppen aufbauen – das sind Beispiele für förderwürdige Projekte. Ulf Opländer, jugendpolitischer Sprecher der Dürener SPD, kritisierte in einer örtlichen Zeitung, dass benachteiligte Kinder an vielen Angeboten nicht teilnehmen könnten. Er will sich dafür einsetzen, die Dinge zu ändern: Es soll mehr Kinderbetreuung geben, damit die Mütter arbeiten können, und kostenlose Mitgliedschaften in Sportvereinen – gegen einen finanziellen Ausgleich durch die Kommune.

Gerda Holz: Alle kindlichen Lebensphasen im Blick

„Die Kommunen wissen sehr genau, wo Bedarf ist“ sagt Gerda Holz vom Sozialinstitut ISS-Frankfurt a.M. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Kinderarmut und Ansätzen für kommunale Armutsprävention. Sie sprach auch auf dem Armutsgipfel in Düren zum Thema. „Ziel der Förderung muss sein, dass alle Kinder bei uns gut aufwachsen sollen.“ Dafür braucht jedes Kind Unterstützung.  „Bei der kommunalen Armutspräven­tion ist die Frage, über die die Kommunen nachdenken müssen, welches Präven­tionskonzept entwickelt und wie dann der Umsetzungsprozess aufgebaut werden kann. Armutsprävention lässt sich nicht in einer Stunde oder für ein Jahr angehen“, betont Holz.
Die Armutsforscherin erklärt ihren Ansatz: Präventionsketten sind aufzubauen, die von null bis 18 Jahren – von der Geburt bis zum Berufseinstieg der Kinder – alle kindlichen Lebensphasen umfassen. Dabei werden die vorhandenen Infrastrukturen systematisch genutzt und miteinander vernetzt, und zwar, wie sie betont, vorbeugend: „Man darf nicht erst reagieren, wenn das Jugendamt Alarm schlägt oder die Schuleingangsuntersuchungen zeigen, wie viel Kinder in der Sprachförderung noch Bedarf haben.“ Präventiv handeln, das bedeutet in der Praxis, dass sich die Kommune Ziele setzt und investiert. Gerda Holz nennt Beispiele: „Dass alle Kinder in Vereine gehen können. Dass alle Kita-Kinder schwimmen lernen.“ Alle miteinander müssten überlegen, wie Kinder gefördert werden können.  

Beispiel im Kampf gegen Kinderarmut: Das „Dormagener Modell“

Es gibt gute Beispiele für kommunale Präventionsketten, die die kommunale Infrastruktur weiterentwickeln. So etwa das „Dormagener Modell“, das unter dem damaligen Bürgermeister Heinz Hilgers (SPD) aufgebaut wurde, um der Gefährdung des Kindeswohls vorzubeugen. Seit 20016 wird es angewendet. In den Jahren davor wurde die Verwaltung umstrukturiert, Jugend- und Sozialamt wurden eine Einheit, ein Qualitätskatalog wurde erarbeitet. Ein wichtiger Baustein war das Umdenken in den Köpfen. Nun wird werdenden Müttern und Familien frühzeitige Unterstützung angeboten, es gibt etwa einen Hausbesuch bei Neugeborenen.

In vielen Jahren wurde ein Netzwerk für Familien geschaffen, in dem Akteure wie Kindergärten, Schulen, freie Träger Ärzte zusammenwirken. Es gibt, um ­einige Beispiele zu nennen, Schulmittelfreiheit, Befreiung von Schülern von Fahrtkosten, und ein Mittagessen für 1 Euro. Ganz wichtig: Betreuungsgarantie für einen Kitaplatz ab 4 Monaten für alle Kinder, so dass der betreuende Elternteil, wenn nötig, die Möglichkeit hat, zu arbeiten. Prävention kann gelingen, zeigt dieses Beispiel, wenn das Kind in den Mittelpunkt gestellt wird und sich in den Köpfen der Beteiligten etwas ändert.

Ein Grund, dass es so viele armutsgefährdete Kinder gibt, ist, dass Familie nicht mehr eine Säule der Gesellschaft ist“, sagt Bernd Siggelkow. Obwohl die „Arche“ mittlerweile 23 Standorte betreibt, findet er Zeit, regelmäßig in Hellersdorf vorbeizukommen. Dienstags ist er immer bei der Kinderparty dabei. Der Gründer der „Arche“  Berlin lässt sich ein, er lebt mit den Kindern: „Wir sind eine Familie“.

Strategie des Berliner Senats zur Bekämpfung von Kinderarmut und Verbesserung gesellschaftlicher Teilhabechancen

Armut und Armutsprävention sollen künftig als Querschnittaufgaben in allen Senatsressorts etabliert werden, um die gemeinsame Strategie sukzessive weiter zu entwickeln.

Der Senat will künftig ein Monitoring schaffen, um Maßnahmen und Projekte künftig besser aufeinander abzustimmen.

Acht Handlungsfelder hat der Senat benannt:

1. Bildung für alle jungen Menschen,
2. Gute und existenzsichernde Arbeit,
3. Gesundheitliche Chancengleichheit,
4. Inklusive Teilhabe von Menschen mit Behinderungen,
5. Soziale Integration,
6. Kulturelle und sonstige gesellschaftliche Teilhabe,
7. Integration und Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund,
8. Generation 65+