Soziales

Tafel Bochum: In der Schlange

Silke Hoock 28. September 2016
Nutzer der Tafel in Bochum-Wattenscheid warten vor der Lebensmittelausgabe.
Die Tafel in Bochum-Wattenscheid versorgt 13.000 Menschen pro Woche. Sie beschränkt sich längst nicht mehr auf die Ausgabe von Lebensmitteln, sondern unterstützt Flüchtlinge bei Behördengängen oder bietet Sprachkurse. Staatliche Leistungen kann sie so ergänzen – aber nicht ersetzen.

Rund 13.000 Kunden stehen hier wöchentlich an und packen ein, was gerade im Angebot ist. Heute gibt es Milchbrötchen, Salatköpfe und Bratwürstchen im Plastikschlauch – noch eine Woche haltbar. Montags bis freitags ziehen die Bedürftigen an den Stapelkisten vorbei, um kostenlos Lebensmittel zu erhalten. Sie alle sind Kunden der Bochum-Wattenscheider Tafel, eine der größten Deutschlands. Denn in Bochum ist Armut keine Seltenheit. „Das Geld, dass ich sparen kann, weil ich hier Kunde bin, kann ich an anderer Stelle gut gebrauchen“, sagt ein Vater von zwei Kindern, der seit zwei Jahren arbeitslos ist. Er schämt sich nicht, hier anzustehen, „ich habe mir das nicht ausgesucht”.

Tafel versorgt immer mehr Bedürftige

Dass die Tafel in der von SPD und Grünen gemeinsam regierten Stadt Bochum besonders groß ist, hat damit zu tun, dass man hier in den vergangenen Jahren große Arbeitsplatzverluste hinnehmen musste. So schloss der Autokonzern Opel vor zwei Jahren seinen Bochumer Standort. 3000 Beschäftigte wechselten in eine Transfergesellschaft. 2008 hatte sich zudem der Handyhersteller Nokia verabschiedet, 2300 Beschäftigte kostete diese Entscheidung den Job. Bochum leidet mit aktuell 10,1 Prozent Arbeitslosenquote unter hoher Arbeitslosigkeit. Viele Menschen sind auf staatliche Leistungen angewiesen. Nach Angaben des Bochumer Sozialdezernates beziehen 22.778 Bedarfsgemeinschaften, in denen 43.829 Menschen leben, Hartz IV. Dass 11.157 dieser Menschen nicht mehr erwerbsfähig sind, liegt daran, dass es sich hauptsächlich um Kinder handelt: 2.206 sind unter 3 Jahre, 2.174 zwischen 3 bis unter 6 Jahre, 6.358 zwischen 6 bis unter 15 und Jahre und 419 über 15 Jahre alt.

Die Tafel in Bochum ist seit ihrer Gründung vor 16 Jahren stark expandiert, weil die Not und somit der Bedarf an kostengünstigen Lebensmitteln für sozial benachteiligte Menschen immer größer wurde. Alle Tafel-Kunden können nachweisen, dass sie bedürftig sind, indem sie den Hartz-IV-, Renten- oder Bafög-Bescheid vorlegen oder die ­BüMA, die Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender. Ein starkes Anwachsen der Kundschaft bei gleichbleibenden Lebensmittelspenden bedeutet aber zwangsläufig: Jeder bekommt etwas weniger. Das belegt mittlerweile auch eine Umfrage des Bundesverbands Deutsche Tafel e.V., über die die DEMO berichtete.

Tafel ergänzt staatliche Leistung

Dies alles lässt ein Problem zu Tage treten: Die Tafeln allein können das Problem von Armut, von der besonders Rentner, Alleinerziehende, Erwerbslose, Niedriglöhner und Flüchtlinge betroffen sind, nicht lösen. In der Bochum-Wattenscheider Tafel hat man sich daher zur Beruhigung aller Beteiligten ein Ritual angewöhnt. Vor der Lebensmittel­ausgabe spricht Tafelgründer Manfred Baasner ein Gebet. „Sei er arm oder reich, egal welche Sprache, Religion oder Hautfarbe, vor Gott sind wir alle gleich.“ Dass die Tafel ein ergänzendes Angebot darstellt und keineswegs ­eine staatliche Leistung ist, darauf legen Baasner und seiner 160 ehrenamtlichen Helfer großen Wert. Immer dann, wenn es zum Beispiel zu Unmut unter den Kunden kommt oder zu Neiddebatten. „Es gibt Leute, die sich beschweren und Angst haben, zu wenig zu bekommen“, erzählt eine Mitarbeiterin der Tafel. Doch dann erinnere man die Kunden daran, dass die Lebensmittelverteilung eine freiwillige, zusätzliche Leistung ist.

Doch inzwischen beschränkt sich die Bochumer Tafel längst nicht mehr ­darauf, Lebensmittel zu verteilen. Ihr Angebot umfasst Beratung bei Behörden­gängen, Sprachkurse, Möbelausgabe und anderes. Im ehemaligen ersten Baumarkt Bochums ist so etwas wie ein Dienstleistungszentrum für Bedürftige entstanden. „Hier bekommt man Hilfe. Ganz unkompliziert und man fühlt sich nicht schlecht dabei“, berichtet eine ­Tafelkundin, 78 Jahre alt.

Sozialdezernentin Birgit Dietinger: „Wertvolles bürgerschaftliches Engagement“

Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge kritisiert, dass sich der Staat auf das Engagement der 60.000 Ehrenamtlichen der Tafeln verlässt und es aus ­eigenem Interesse unterstützt. Den Sozial­staat zu ergänzen sei gut und notwendig, sagt er, aber er dürfe nicht durch karitatives Handeln ersetzt werden.

Doch welche Rolle übernimmt die Tafel aus Sicht der Stadt Bochum? Ersetzt sie den Staat? Keineswegs meint Sozialdezernentin Birgit Dietinger: „Die Tafeln in Deutschland nehmen keine Aufgaben wahr, die die Stadt im Rahmen der ­Daseinsvorsorge für Bürger übernehmen müsste. Sie ergänzen die öffentlichen Grundsicherungsleistungen und runden sie durch wertvolles bürgerschaftliches Engagement ab.“

 

Fakten zu Tafeln in Deutschland

Mehr als 900 Tafeln in Form gemeinnütziger Vereine gibt in ganz Deutschland. Dort sind rund 60.000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer beschäftigt.

Die Hälfte der Tafeln in Deutschland agiert nach Angaben des Bundesverbands als eingetragener Verein, die andere Hälfte befindet sich in Trägerschaft von Wohlfahrtsverbänden, kirchlichen Einrichtungen und Stiftungen.

Finanzen: Die Tafeln finanzieren sich grundsätzlich über Spenden.

Die Idee: Überschüssige, aber qualitativ einwandfreie Lebensmittel im Handel und bei Herstellern werden eingesammelt und umsonst oder für einen symbolischen Beitrag an sozial und wirtschaftlich benachteiligte Menschen ausgegeben.

Tafel-Nutzer: Woche pro Woche nutzen 1,8 Millionen Menschen, Bedürftige wie Arbeitslose und Alleinerziehende, Geringverdiener, kinderreiche Familien, Rentner oder Zugewanderte, das Angebot der Tafeln. Ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche.