Erinnerung in den Kommunen

„Die Leere des historischen Zentrums wurde neu besetzt”

Carl-Friedrich Höck11. November 2020
Die ”Neue Altstadt” in Frankfurt am Main vereint historische Fassaden und moderne Architektur.
Frankfurt am Main hat einen Teil seiner Altstadt neu aufgebaut. Das Projekt war durchaus umstritten. Warum das heute anders ist, erklärt der Direktor des Historischen Museums Jan Gerchow im Interview.

In Frankfurt wurde vor kurzem eine „neue Altstadt” eingeweiht. Können Sie allen Nicht-Frankfurter*innen beschreiben, was das ist?

Die neue Altstadt ist ein Quartier, das aus ungefähr 40 Parzellen besteht. Es verbindet den Römerplatz – wo das Rathaus steht - mit dem Dom. Die Grundstücke gruppieren sich um eine Gasse, die Alter Markt heißt oder auch Krönungsweg. In Frankfurt wurden neun Kaiser gekrönt und die Gasse war Teil der Krönungszeremonie. Die Strecke beträgt nur rund 300 Meter, umgeben von Plätzen und Gassen. Das ist aber auch der älteste Teil von Frankfurt, dieses Gebiet wurde im 12. und 13. Jahrhundert zuerst besiedelt. Die wiederaufgebauten Parzellen sind sehr kleinteilig und spiegeln die früheste Schicht der Stadtgeschichte wider. So etwas ist wahrscheinlich für jede Stadt von besonderer Bedeutung.

Die Frankfurter Altstadt wurde im März 1944 durch Bombenangriffe zerstört. Davor hatte Frankfurt eine riesige Altstadt mit rund 2.000 Häusern aus der Stauferzeit und aus dem 15. bis 18. Jahrhundert. Das hat Frankfurts Identität vor der Zerstörung massiv geprägt, so wie es heute die Hochhäuser tun. Deshalb ist die Debatte um den Wiederaufbau des kleinen Altstadt-Teils emotional so aufgeladen.

Wie originalgetreu ist die neue Altstadt?

Das Projekt hat versucht, die früheren Parzellen möglichst originalgetreu und mit der damaligen Kleinteiligkeit wiederzubebauen. Es gibt aber eine Unterscheidung: Knapp die Hälfte der Häuser sind historische Rekonstruktionen, bei denen die Fassaden sehr genau wiederhergestellt wurden und auch das Innenleben weitgehend dem Original angeglichen wurde. Der etwas größere Teil sind moderne Interpretationen. Es gab eine Gestaltungssatzung für die nicht rekonstruierten Häuser. Die hat zum Beispiel eine Satteldachform vorgeschrieben oder die Verwendung bestimmter Materialien. Die Architekten konnten diese Vorgaben modern interpretieren oder sich an historische Stile anlehnen. Daraus ist eine Mischung enstanden: Rekonstruktion, historische Anmutung und moderne Interpretation.

Ihr Museum hat sich intensiv mit den Debatten um die Frankfurter Innenstadt befasst. Wie kam es zu dem Projekt?

Die Debatte darüber begann 2005 und entzündete sich an einem Masterplan für diese Fläche der einstigen Altstadt. Ein Großteil wurde damals vom technischen Rathaus eingenommen, einem 1972 errichteten Verwaltungsgebäude. Der Masterplan wurde weitgehend ohne Bürger*innenbeteiligung erstellt und sah typische Investoren-Architektur vor: Mit Flachdächern zwischen Dom und Römer, ohne Bezug zum Ort. Eine Gruppe von Frankfurter Stadtbewohner*innen war darüber empört, hat sich organisiert und Initiativen  wie „Freunde der Altstadt“ gegründet. Die Kontroverse mündete in einen Sonderausschuss der Stadtverordnetenversammlung. Dort wurde die Diskussion von 2007 an fokussiert, und daraus entstand das Bauprojekt Neue Altstadt.

Die Stadt hat sich die Forderungen aus der Bevölkerung zu eigen gemacht und sich darauf eingelassen, das Areal in einem demokratisch abgesicherten Verfahren zu entwickeln. Sachkundige Bürger*innen und Initiativen wurden im Sonderausschuss integriert, es gab auch einen Gestaltungsbeirat. 2018 wurde das Projekt abgeschlossen. Die Stadt hat rund 200 Millionen Euro in die Hand genommen, das Projekt umzusetzen. Aber es wurde eben nicht alles 1:1 rekonstruiert, sondern es entstand die spezielle Frankfurter Lösung.

Stand die gesamte Bevölkerung hinter dem Altstadt-Projekt?

Die Meinung in der Bevölkerung hat sich stark verändert. Anfangs gab es eine starke Polarisierung: Es gab die Altstadtbefürworter*innen, von denen aus heutiger Sicht auch nicht alle politisch ganz koscher waren. Da steckten durchaus auch rechtskonservativ-populistische Kreise dahinter. Die haben sich auf den Prozess draufgesattelt und versucht das auszunutzen. Das Thema Altstadt war aber weder damals noch heute ein rein rechtes, identitäres Projekt.

Auf der anderen Seite gibt es einen starken linksliberal ausgerichteten Teil der Bevölkerung, der von der Studentenbewegung geprägt ist und das Altstadt-Projekt ablehnte. Auch die Betonarchitektor findet dort Liebhaber*innen. Diese Gruppe hat sich nicht durchgesetzt, aber viele haben sich mit dem Prozess versöhnt und in der Stadtverordnetenversammlung mitgewirkt. Es gibt zwar auch heute noch Gegner, die die neue Altstadt als Disneyland bezeichnen. Aber die Frankfurter*innen nutzen das Viertel, sie führen ihre Gäste dahin und es ist ein Stadtteil mit besonderer Qualität geworden. Das Projekt hat die große Leere des eigentlichen historischen Zentrums wieder neu besetzt.

Auch in anderen Städten werden historische Gebäude rekonstruiert: In Berlin das Stadtschloss, in Potsdam die Garnisonkirche, in Dresden wurde die Frauenkirche wieder aufgebaut. Sehen Sie da einen Trend?

Ich würde unterscheiden: Es gibt einerseits Leitbauten, wie es die Dresdener Frauenkirche oder das Berliner Stadtschloss waren. Das sind einzelne Baudenkmäler mit Symbolwert. Andererseits gibt es Quartierlösungen wie den Dresdener Neumarkt. Beides wird in der Öffentlichkeit unterschiedlich diskutiert. In Frankfurt ging es nicht darum, ein großes Baudenkmal zurückzugewinnen, sondern man wollte wieder einen belebten Stadtteil schaffen, der von einer breiten Öffentlichkeit genutzt werden kann - mit Restaurants, Ateliers, Büros und Wohnungen. Dabei hat man sich stark an die Historie des Quartiers angelehnt.

Ich denke gar nicht, dass Rekonstruktionen heute so viel öfter vorkommen. In der Nachkriegszeit gab es solche Debatten auch schon. In Frankfurt sind verschiedene Leitbauten wiedererrichtet worden, wie der Römer, die Paulskirche und das Goethehaus. In den 1980ern gab es eine erste Welle, als die Alte Oper und das Leinwandhaus wieder aufgebaut wurden und auch die Ostzeile am Römer. Was sich verändert, ist das Verhältnis zur eigenen Geschichte. Direkt nach dem Krieg war das Bewusstsein stark vom Neuanfang geprägt, von der Distanzierung zur NS-Zeit, und die Zerstörung der Innenstädte war eine Folge des Nationalsozialismus. Man wollte eine Zäsur und blickte nach vorne. Nach dem Kalten Krieg ist der Bezug zur Vergangenheit vor 1933 wieder gewachsen. Das kann identitäre Züge haben und auch so besetzt werden. Aber es wäre zu kurz gegriffen, diese Entwicklung als rein rechte Veranstaltung zu begreifen. Denn darin drückt sich auch ein bewussterer Umgang mit gebauten Traditionen aus, mit Spuren, die auch in die weitere Vergangenheit zurückreichen. Und generell auch ein anderer Umgang mit Innenstädten und historischer Bausubstanz.

Ein wichtiger Aspekt ist auch das Planungsrecht: Die städtischen Behörden wissen, dass sie Quartiere nicht einfach so hinplanen können, sondern dass es in der Bevölkerung ein Bewusstsein dafür gibt und man die verschiedenen Interessen einbeziehen muss. Daraus resultiert ein demokratischerer Planungsprozess, das wirkt sich auf die Ergebnisse aus.

Teilweise wird beim Wiederaufbau ein architektonischer Bruch eingefügt, der die „Kopie” als solche kenntlich macht. Das Berliner Stadtschloss wurde zum Beispiel mit einer modernen Ostfassade versehen. Wie bewerten Sie solche Ansätze?

Ich finde das gut und richtig. In der Frankfurter Altstadt stehen ja auch historische Rekonstruktionen und moderne Interpretationen nebeneinander, die aber auf das Alte Bezug nehmen. Das Neue wird nicht einfach wie ein Ufo daneben gestellt. Das Gesamtbild ist etwas Gewachsenes und spiegelt unterschiedliche Zeitschichten wider. Wenn dieses Zusammenspiel von Altem und Modernem mit Sensibilität umgesetzt wird, funktioniert das gut und ist aus meiner Sicht auch besser als eine Totalrekonstruktion, die trotzdem ein Fremdkörper bleibt und eine Fiktion ist. Moderne Elemente zeigen, dass es sich um ein Produkt der Gegenwart handelt – und das halte ich für wichtig. Unser Historisches Museum ist auch ein moderner Bau, der aber fünf Baudenkmäler aus dem 12. bis 19. Jahrhundert integriert, die mehr oder weniger original erhalten sind.

Wie soll man mit Bauwerken umgehen, die dem Wiederaufbau von Altstadt-Elementen im Weg stehen, aber selbst schon Teil der Stadtgeschichte geworden sind? In Berlin musste für das Stadtschloss der "Palast der Republik" weichen, in Frankfurt ein Rathausgebäude mit Nachkriegsarchitektur.

Dem Technischen Rathaus in Frankfurt würde ich nicht die Relevanz eines Palastes der Republik zumessen. Dessen Abriss fand ich problematisch, zumal der Wiederaufbau eines preußischen Stadtschlosses ja auch eine politische Komponente hat. In Frankfurt war der ehemalige Krönungsweg nach dem Krieg eine Art Leerstelle. Darin drückte sich auch die Ratlosigkeit der Stadt aus, wie man mit dem historischen Kern umgehen soll. Die verschachtelte Altstadt galt als nicht-wiederaufbaubar. Man fragte: Wer will schon in engen Gassen mit wenig Licht wohnen? Lange Zeit gab es hier nicht viel mehr als einen Parkplatz, dann entstanden ab den 1970ern das Technische Rathaus und die Schirn-Kunsthalle. Das technische Rathaus hat kaum Freunde gewonnen. Das war für sich genommen ein schöner Bau, aber er passte nicht zu dieser Stelle.

Was können andere Kommunen aus den Debatten, die um die Frankfurter Altstadt geführt wurden, lernen?

Der Ausgangspunkt für solche Debatten sind oft Forderungen einer lauten Minderheit. Darauf wurde in Frankfurt gut reagiert. Die Politik hat die Debatte ernst genommen und sich Mühe gegeben, die Bürger*innen zu beteiligen. Es wurde ein Sonderausschuss gegründet und ein Gestaltungsbeirat herangezogen. Das hat funktioniert.

Wo Frankfurt sicher noch selbst dazulernen kann: Wie geht man mit politischer Vereinnahmung um? Das wird uns wahrscheinlich in Zukunft noch öfter beschäftigen, wenn sich die AfD und andere rechte Gruppen verstärkt solcher Themen annehmen. In Frankfurt poppt gerade eine Diskussion um die Paulskirche auf: Soll die Innengestaltung in den Originalzustand zurückversetzt werden? Wie geht man mit dem Platz vor der Kirche um? In vielen Städten hängen die Altstadt-Debatten auch mit der Frage zusammen, wie man mit dem Bombenkrieg umgeht. Bei der Frankfurter Altstadt ist es gelungen, die Debatte aus dem rechten politischen Kontext herauszulösen. Aber die grundsätzlichen Wege und Verfahren für diese Situation müssen erst noch gefunden werden.

Jan Gerchow ist Historiker und Direktor des Historischen Museums Frankfurt.