Corona-Krise

Andreas Geisel: Lockerungen eine Frage des Vertrauens

Benedikt Dittrich29. Mai 2020
Berlins Innensenator Andreas Geisel
Andreas Geisel hat keine Angst vor Verschwörungstheorien, solange die Mehrheit nicht schweigt. Berlins Innensenator sorgt sich vielmehr um Europas Werte in der Krise, denn in Griechenland harren weiterhin 20.000 Geflüchtete aus. Ein Gespräch.

Herr Geisel, in den vergangenen Tagen hatten die Hygienedemos in Berlin und anderen Städten weniger Zulauf. Hat sich damit der Protest gegen die Corona-Regeln erledigt?

Ich glaube, dass wir die Kritik von einigen Menschen auf den Demonstrationen ernst nehmen müssen. Es hat ja tiefe Einschnitte in die Grundrechte der Menschen gegeben. Es ist richtig, dass  das nur in eng begrenzten Zeiträumen möglich sein darf und es einer demokratischen Kontrolle unterliegen muss. Auch ich will so schnell wie möglich, dass wir zu unseren vollen Grundrechten zurückkehren können. Solange wir da noch nicht sind,  wäre es leichtsinnig zu glauben, dass sich die Kritik erledigt hat. Diese Demonstrationen sind auch ein Ausdruck von Verunsicherung in der Bevölkerung.

Bedeutet „Augenmaß“ in dem Zusammenhang, den Demonstranten entgegenzukommen?

Nein, keinesfalls. Ich glaube, dass es keine sinnvolle Diskussion mit überzeugten Extremisten oder Verschwörungstheoretikern geben kann. Ich meine aber, dass die Einschränkungen der Grundrechte so gering wie möglich gefasst werden müssen. Wenn die Infektionszahlen so niedrig bleiben, sollten wir schnellstmöglich zu unseren verbrieften Freiheiten zurückkehren. Damit machen wir deutlich, dass hinter dem Ganzen keine Verschwörung steckt, sondern die verantwortungsvolle Abwägung von Grundrechten – zum Beispiel  der Versammlungsfreiheit mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Mit Augenmaß meine ich auch, dass wir das Versammlungsrecht zwar eingeschränkt haben, aber nicht die Meinungsfreiheit abgeschafft haben.

Sind die Verschwörungstheorien in der Corona-Krise eine Gefahr für die Demokratie?

Vor Verschwörungstheoretikern habe ich keine Angst. Und Extremisten müssen uns nicht an unsere Grundrechte erinnern. Wovor ich Sorge habe, ist das Schweigen der Mitte. Wenn die Mehrheit schweigt, können Extremisten oder Verschwörungstheoretiker plötzlich die politische Agenda bestimmen. Deshalb sollte die Aufmerksamkeit für diese Demonstrationen ein Warnsignal sein, dass wir gewonnenes Vertrauen nicht verspielen dürfen. Die Stabilität unserer Demokratie macht sich am Engagement in der Mitte der Gesellschaft fest. Wir gehen mit dieser gesundheitlichen Bedrohung in Deutschland sehr verantwortungsbewusst um. Die niedrigen Infektionszahlen sind das Ergebnis unserer Arbeit und des Umgangs der Bevölkerung mit der Bedrohung.

Ist die Mitte der Gesellschaft denn in der Krise besonders engagiert?

Die guten Ergebnisse beim Infektionsschutz in Deutschland haben damit zu tun, dass 95 Prozent der Bevölkerung sich an die Regeln halten und bewusst andere Menschen schützen. Was wir auf der Straße bei den Demonstrationen gesehen haben, war ja nur ein Bruchteil der Menschen: Berlin hat 3,7 Millionen Einwohner. Wenn dann 3.000 Menschen insgesamt auf der Straße sind, muss man das auch mal ins Verhältnis setzen. Mir ist wichtig, dass ein Großteil der Gesellschaft sich zu den Regeln bekennt. Deswegen müssen wir jetzt Lockerungen umsetzen und klären, wer die wirtschaftlichen Schäden der Krise bezahlt. Das ist die Vertrauensfrage, die wir jetzt beantworten müssen.

Wie muss denn die Antwort ausfallen?

Wenn wir jetzt die Steuern senken und die Ausgaben erhöhen, zahlt am Ende der untere Teil der Gesellschaft die Kosten. Stattdessen sollten starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern. Daran misst sich auch der Erfolg der SPD. All die Themen, die wir als SPD seit jeher haben, die Vermögenssteuer beispielsweise, oder dass der Staat Geld braucht, um Stabilität zu garantieren und solidarisch zu handeln, haben jetzt wieder Konjunktur. Das ist eine Richtungsentscheidung, die uns die nächsten Wochen und Monate beschäftigen wird. In diese Debatte müssen wir uns einmischen, da ist mir meine Partei zurzeit noch zu schweigsam.

Gilt das auch für den Kampf gegen Hass und Extremismus im Netz?

Wir müssen im Netz gegen Hass und Extremismus energisch vorgehen. Das Ganze hat ja nicht erst mit Corona begonnen. Wir beobachten dort seit mehreren Jahren einen zunehmenden Extremismus. Die Wege zwischen Worten und Taten werden immer kürzer. Auch im Netz gibt es Kräfte am Rande unserer Gesellschaft, die uns auseinandertreiben wollen. Es ist unsere Aufgabe, auch dort für Zusammenhalt zu sorgen. Wer im Netz zu Gewalt aufruft, darf nicht anonym bleiben und unverfolgt. Dafür müssen wir die rechtlichen Voraussetzungen schaffen. Auf der anderen Seite geht es um Aufklärung, um Radikalisierungstendenzen vorzubeugen. Das bleibt auch aktuell, wenn die Corona-Pandemie abflaut.

Sind das auch die Punkte, die für Sie auf die Tagesordnung der Innenministerkonferenz im Juni gehören?

Neben den sicherheitspolitischen Themen der Konferenz ist mir zunächst ein einheitliches Vorgehen der Bundesländer beim Öffnen der Grenzen wichtig. Außerdem geht es mir um die Folgen der Krise, ich habe als Thema den Umgang mit den Flüchtlingen auf den griechischen Inseln angemeldet. Dort sitzen rund 20.000 Menschen fest, leben in beinahe apokalyptischen Zuständen, während an der griechisch-türkischen Grenze geschossen wird.

Daran appellieren auch die anderen SPD-Innenminister. Wo gibt es dagegen denn Widerstände?

In den Ländern wird das zwar diskutiert, weil unter anderem das Land Berlin sich dazu bereiterklärt hat, Menschen aufzunehmen. Die Umsetzungsfrage ist aber eine Bundesfrage beziehungsweise eine Europafrage und da sehe ich zurzeit wenig Bewegung. Es muss eine europäische Verteilung geben, es können sich nicht einfach einzelne Länder weigern. Es verstößt gegen unsere europäischen Werte, wenn wir nicht klären können, wie wir mit 20.000 Menschen umgehen, die innerhalb der EU unter unfassbaren humanitären Bedingungen leben müssen.

Ein Problem, das aber schon vor Corona existierte.

Das stimmt. Wir, also Boris Pistorius, Georg Maier und ich, haben schon im Dezember 2019 an Innenminister Seehofer geschrieben. Gescheitert ist die Aufnahme in Deutschland bisher an der Weigerung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Es gibt jetzt zwar einen Kompromiss für die Aufnahme von 500 Geflüchteten, die Grundsatzfrage ist aber nach wie vor ungelöst.

Das Interview ist zuerst auf vorwaerts.de erschienen.