Landrat Reuter im Interview

„Die Arbeit der Kommission Gleichwertige Lebensverhältnisse war leider für den Papierkorb”

Carl-Friedrich Höck14. Juli 2021
Landrat Bernhard Reuter
Gleichwertige Lebensverhältnisse? Dieses Ziel habe die Bundesregierung verfehlt, kritisiert der Vizepräsident des Deutschen Landkreistages Bernhard Reuter. Warum der Verband eine Steuerreform fordert, erklärt er im DEMO-Interview.

Bernhard Reuter (SPD) ist Landrat im Kreis Göttingen. Seit 2010 amtiert er als Vizepräsident des Deutschen Landkreistages. Diese Ära geht bald zu Ende, denn zur nächsten Landratswahl im Herbst 2021 tritt Reuter nicht wieder an. Mit Reuter haben wir über die Jahrestagung des Deutschen Landkreistages am vergangenen Freitag gesprochen.

DEMO: Mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatten die Landkreise bei ihrem Jahrestreffen am Freitag einen prominenten Gast. Welche Botschaften hatte er im Gepäck?

Wir haben uns gefreut, dass der Bundespräsident seine große Wertschätzung für die Arbeit der Landkreise zum Ausdruck gebracht hat. Das gilt ganz besonders in der Corona-Pandemie. Die Last ist in erster Linie von den Gesundheitsämtern vor Ort getragen worden. Steinmeier hat auch ein weiteres Thema angesprochen, das uns sehr auf dem Herzen liegt: Gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land. Er hat unterstrichen, dass das Leben auf dem Land natürlich anders ist als in der Stadt, es aber nicht schlechter sein darf. Da geht es um schnelles Internet, Fragen der Mobilität, Kultur, Sport und so weiter. In der Corona-Krise ist eine Tendenz zu beobachten, dass viele Menschen zurück aufs Land ziehen. Ob das anhalten wird, hängt auch davon ab, wie gut wir die Infrastruktur auf dem Land ausbauen.

Die Bundesregierung hat zu Beginn der Wahlperiode eine Koalition eingesetzt, die Vorschläge machen sollte, wie gleichwertige Lebensverhältnisse gesichert werden können. Vor zwei Jahren hat die Kommission ihre Arbeit beendet. Wie bewerten sie denn jetzt – zum Ende der Wahlperiode – das Erreichte?

Die Arbeit der Kommission war leider für den Papierkorb. Es ist fast nichts dabei herausgekommen. Am Ende blieben zwei Vorhaben übrig. Erstens Hilfen für Regionen, die aus der Braunkohle aussteigen – das hat aber speziell mit dem ländlichen Raum gar nichts zu tun. Und zweitens die Forderung von Olaf Scholz, Kommunen mit hohen Altschulden zu helfen. Auch daraus ist nichts geworden, und das hätte auch in erster Linie Großstädten genützt. Daher muss man sagen: Die Regierung hat ihre Ziele vollständig verfehlt.

Um in ländlichen Räumen mehr Investitionen zu ermöglichen, fordert der Landkreistag, die Umsatzsteuer entsprechend der Zahl der Einwohner*innen zu verteilen. Inwiefern würde das helfen? Gerade im ländlichen Raum ist die Bevölkerungsdichte doch eher gering.

Erstmal muss man wissen, dass die Landkreise in hohem Maße für soziale Transferleistungen aufkommen. Nämlich bis zu etwa 25 Prozent. Aber bei den Steuereinkünften haben sie einen deutlich geringeren Anteil. Deshalb fordert der Landkreistag seit Jahrzehnten, die Kreise an einer Steuer zu beteiligen. Außer bei der der Erbschaftssteuer gibt es das bisher nicht.

Vorzugsweise würden wir die Umsatzsteuer wählen. Warum? Weil die Umsatzsteuer relativ gleichmäßig fließt, sie unterliegt keinen starken konjunkturellen Schwankungen. Das passt zu den sozialen Aufwendungen, die ja gerade in Krisenzeiten höher ausfallen. Und wir fordern, die Steuereinnahmen nach Köpfen zu verteilen nicht nach tatsächlichen Umsätzen. Denn die Umsätze werden vor allem in den großen Metropolen getätigt. Erwirtschaftet werden sie aber auch von Leuten, die auf dem Land wohnen. Eine Verteilung nach Köpfen wäre da fair und würde insbesondere kleineren Gemeinden helfen.

Der Landkreistag warnt in einer aktuellen Pressemitteilung vor immer neuen Förderprogrammen und „goldenen Zügeln“. Das ist nicht ganz neu – aber warum thematisieren die Landkreise das gerade jetzt? Sind befristete Förderprogramme nicht besonders in Krisenzeiten ein geeignetes Mittel?

Es stimmt, das fordern wir schon lange. Es wäre auch verfassungsrechtlich und politisch richtig, den Kommunen das Geld über eine bessere Grundfinanzierung zukommen zu lassen statt über Förderprogramme. Wir wollen natürlich nicht auf das Geld verzichten, wir wollen nur selbst entscheiden, was damit geschieht. Wir wünschen uns eine auskömmliche Finanzausstattung, statt über Förderprogramme immer dem Geld hinterherzulaufen. Die Programme sind oft zu breit gestreut und nicht zielgenau, und sie bauen eine endlos lange Förderbürokratie auf. Ich erlebe das selbst im Kreis Göttingen. Manchmal müssen wir, um 100.000 Euro Fördergelder zu generieren, Kosten von 60.000 bis 70.000 Euro aufwenden. Dazu kommt der Aufwand für die Antragstellung und Verwendungsnachweise. Da fragt man sich schon nach dem Nutzen.

Jüngst wurde bekannt, dass der Bund seine Förderung für Innenstädte ausweitet – von 25 auf 250 Millionen Euro. Die Ortszentren leiden unter der Corona-Krise, mit dem Geld sollen die Kommunen zum Beispiel etwas gegen den Leerstand in den Einkaufsstraßen unternehmen können. Inwiefern profitieren auch die Landkreise von dem Programm?

Natürlich viel weniger als die großen Städte. Aber wir können auch gönnen. Das Programm ist in Ordnung. Man spürt, dass die Städte in eine Krise geraten sind. Sie werden auch umstrukturieren müssen. Ich glaube nicht, dass die Vor-Corona-Zeit einfach so wiederkommen wird, den Trend zum Online-Handel gibt es ja auch schon länger. Darauf zu reagieren finde ich richtig, und davon werden auch Mittelzentren und kleinere Städte profitieren.

Für Sie war es nach elf Jahren die letzte Jahrestagung als Vizepräsident des Deutschen Landkreistages. Wie schauen Sie auf diese Zeit zurück?

Reuters Amtszeit als Landrat endet im Herbst. Foto: Swen Pförtner/LK Göttingen

Traditionell habe ich das Schlusswort gehalten und habe diesmal die Gelegenheit für einen kleinen Rückblick genutzt, was wir in den vergangenen 20 Jahren erreicht haben. Wir haben zwei Dinge geschafft, die ich für extrem wichtig halte, weil sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Das sind erstens die kommunalen Jobcenter. Die würde es nicht geben, wenn der deutsche Landkreistag nicht vor 15-20 Jahren enorm dafür gekämpft hätte.

Das zweite Thema ist die Gesundung der Finanzen. Wir schwimmen nicht in Geld, aber es geht uns viel besser als vor zehn Jahren. In Göttingen hatten wir 130 Millionen Euro Kassenkredite, heute null. Das ist nicht von alleine gekommen, dafür haben wir viel getan. Und als Sozialdemokrat kann ich sagen: Das war im Wesentlichen die SPD, die dafür gesorgt hat, dass die Kommunen auch massiv entlastet wurden, etwa bei der Grundsicherung für Ältere und Erwerbsunfähige und bei den Kosten der Unterkunft. Sigmar Gabriel hat 2009 nach der verlorenen Bundestagswahl viele SPD-Oberbürgermeister und Landräte eingeladen und mit uns darüber geredet: Was muss passieren? Wir haben gesagt: Wir brauchen Geld. Wir haben auch eine Summe ermittelt, die den Kommunen strukturell fehlt; das waren acht bis neun Milliarden Euro. In seiner Zeit als Parteivorsitzender hat Gabriel dafür gesorgt, dass dieses strukturelle Defizit beseitigt wird – natürlich nicht allein, da mussten die Unionsparteien mitgehen. Davon profitieren wir jetzt enorm. Das heißt nicht, dass unsere aktuellen Wünsche unberechtigt sind. Aber es ist auch wichtig einmal festzuhalten: Die Verbandsarbeit der vergangenen Jahre hat sich gelohnt.