Neue Berechnungsgrundlage

Bertelsmann-Studie: Kinder sind ein Armutsrisiko

Carl-Friedrich Höck08. Februar 2018
Familie vor dem Reichstag
Die Schattenseite des Kindersegens: Für einkommensschwache Familien werden Kinder oft zur finanziellen Herausforderung (Symbolbild).
Kinder bedeuten insbesondere für arme Familien eine größere finanzielle Belastung, als bisher angenommen wurde. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Sie fordert den Bund zum Handeln auf – und schlägt „Kinder-Büros“ in den Kommunen vor.

„Man muss genauer hinsehen.“ So fasst Sarah Menne, Projektmanagerin bei der Bertelsmann-Stiftung, die gewonnene Erkenntnis zusammen. Forscher der Ruhr-Universität Bochum haben im Auftrag der Stiftung untersucht, wie stark sich die Zahl der Kinder auf die finanzielle Situation von Familien auswirkt.

Kritik an starren Berechnungsmethoden

Was sie herausgefunden haben, überrascht auf den ersten Blick kaum: Je kleiner das Einkommen einer Familie ist, desto schwerer wiegt die finanzielle Belastung durch jedes Kind. Praktisch heißt das aber auch, dass eine etablierte und weit verbreitete Berechnungsmethode an der Realität vieler Familien vorbeigeht.

Um Einkommen international und regional vergleichen zu können, wird in der Regel die OECD-Skala herangezogen. Diese arbeitet mit sogenannten Äquivalenzgewichten. Das bedeutet: Man geht einfach pauschal davon aus, dass ein Kind unter 14 Jahren 0,3 Mal so viel Geld kostet wie der Lebensunterhalt eines allein lebenden Erwachsenen. Bei einer Person über 14, die zusätzlich im Haushalt lebt (also auch Ehepartner), nimmt man einen Faktor von 0,5 an. Eine Familie bestehend aus Vater, Mutter und drei kleinen Kindern hätte demnach einen Einkommensbedarf, der dem 2,4-Fachen eines Singlehaushaltes entspricht.

Hohe Fixkosten für Kinder

Die Forscher aus Bochum halten das für unrealistisch. Sie verweisen auf hohe Fixkosten, etwa für ein Kinderzimmer, Schulsachen oder Kleidung. Diese Kosten fallen bei niedrigen Einkommen stärker ins Gewicht als bei vergleichsweise wohlhabenden Familien. Und bei Alleinerziehenden sowie besonders kinderreichen Familien sei der Effekt sogar noch größer. Denn, so die Wissenschaftler: Aufgrund der aufwendigen Betreuung können die Eltern ihr Einkommen kaum steigern, um den Bedarf zu decken.

Das Fazit: Bei Anwendung der OECD-Skala würden Einkommen armer Haushalte systematisch überschätzt und die reicher Haushalte unterschätzt. Die Autoren der Studie haben deshalb selbst neue, einkommensabhängige Äquivalenzgewichte ermittelt. Legt man diese zugrunde, ergibt sich für Alleinerziehende ein Armutsrisiko von 68 Prozent – deutlich mehr als die 46 Prozent, von denen „frühere Berechnungen“ ausgegangen seien, so die Bertelsmann-Stiftung. Bei Paarfamilien steigt das Armutsrisiko mit der neuen Methode auf 13 Prozent bei einem Kind, 16 bei zwei und 18 Prozent bei drei Kindern – was jeweils knapp drei Prozent über den bisher angenommenen Werten liegt.

Die Stiftung wirbt für ein Teilhabegeld

„Kinder sind leider ein Armutsrisiko in Deutschland“, sagt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. Die Einkommensschere zwischen wohlhabenden und armen Familien sei seit den 1990er Jahren noch weiter aufgegangen. Nur die Familien hätten ihre Einkommenssituation halten oder verbessern können, die ihren Erwerbsumfang ausweiten konnten. Der Ausbau der Kita-Betreuung sei hierfür entscheidend gewesen. Dagegen hätten Kindergelderhöhungen die Einkommenssituation von Familien mit Kindern nicht nachhaltig verbessert. Weil das Kindergeld mit anderen Leistungen verrechnet werde, komme eine Erhöhung bei armen Familien oft nicht an, erklärt Projektleiterin Sarah Menne das Problem. Sie meint: „Kinder gehören nicht ins SGB II.“

Mit der Studie als Argument wirbt die Bertelsmann-Stiftung nun für ein neues System, um ärmere Familien zu unterstützen. „Mit einem Teilhabegeld als neue familienpolitische Maßnahme können wir das Kindergeld, die SGB II-Regelsätze für Kinder und Jugendliche, den Kinderzuschlag und den größten Teil des Bildungs- und Teilhabepakets bündeln“, schlägt Jörg Dräger vor. Das Teilhabegeld würde gezielt arme Kinder und Jugendliche erreichen und mit steigendem Einkommen der Eltern abgeschmolzen werden.

Auch DStGB fordert Reform der Familienleistungen

Die Idee eines Teilhabegeldes findet auch beim Deutschen Städte- und Gemeindebund Fürsprecher. „Wir sind mit der bisherigen Finanzierungsstruktur nicht glücklich“, sagt Uwe Lübking, der als Beigeordneter unter anderem für Jugend und Soziales zuständig ist. Er klagt über ein Dickicht an Familienleistungen, die teilweise gegeneinander aufgerechnet würden und nicht strukturiert seien. Niemand, der in Vollzeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, dürfe nur wegen seiner Kinder in Hartz IV rutschen. SPD und Union wollen das künftig mit einem Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien verhindern – aber auch das hält Lübking für hoch bürokratisch. Man müsse die Leistungen „so stricken, dass sie einfach ausgerechnet und ausbezahlt werden können.“ Also zum Beispiel in Form eines Teilhabegeldes oder einer Kindergrundsicherung.

Zurückhaltender reagiert Lübking auf einen weiteren Vorschlag der Bertelsmann-Stiftung. Nämlich den, in den Kommunen sogenannte Kinder-Büros zu schaffen. Sie könnten in Kitas, Schulen und Familienzentren eingerichtet werden und Familien unbürokratisch in allen Belangen unterstützen, die Jugend und Familie betreffen. Sarah Menne von der Bertelsmann-Stiftung beschreibt sie als eine Art Erstanlaufstelle, die auch Anträge zu unterschiedlichen Leistungen annimmt und die Eltern an zuständige Behörden weitervermittelt. Menne selbst merkt an, dass viele Kommunen solche Angebote – etwa mobile Beratungsstellen – bereits geschaffen haben. Nun sei der Bund gefordert, zusätzliches Geld für die Beratung bereitzustellen.

Uwe Lübking wendet ein, dass es mit den Jugendämtern ja bereits Anlaufstellen gebe – diese müsse man nur gut organisieren. „Im Prinzip haben wir unsere Struktur“, sagt Lübking. Und viele kommunale Projekte suchten auch gezielt den Weg über die Kitas, um Kinder und Familien zu erreichen. Man wisse ja: „Wir müssen sie dort abholen, wo sie sind.“

 

Mehr zur Studie: bertelsmann-stiftung.de

Die Bertelsmann-Stiftung

Die Bertelsmann-Stiftung wurde 1977 von dem Unternehmer Reinhard Mohn errichtet. Laut Bundesverband Deutscher Stiftungen hat sie ein Eigenkapital von knapp 1,2 Milliarden Euro (Buchwert). Damit gehört sie zu den größten privatrechtlichen Stiftungen Deutschlands. Sie ist als gemeinnützig anerkannt.

Die Stiftung hält die Mehrheit der Anteile am Bertelsmann-Konzern und finanziert sich zu großen Teilen aus dessen Dividenden. Auf der Internetseite der Stiftung heißt es: „Die Programme der Bertelsmann Stiftung sind (…) darauf ausgerichtet, Menschen zu fördern, die Gesellschaft zu stärken und dafür die Systeme weiterzuentwickeln.“ Teilhabe setze im Verständnis der Stiftung handlungsfähige Menschen und eine Gesellschaft voraus, die allen gleiche Chancen eröffne.

Kritiker werfen der Stiftung vor, gemeinnützige und kommerzielle Interessen zu vermengen. Die Organisation „Lobby Control“ schreibt in ihrer „Lobbypedia“: „Die Bertelsmann Stiftung gehört zu den einflussreichsten neoliberalen Denkfabriken im Land. Wirkmächtig propagiert sie die Privatisierung von staatlichen Bereichen und fördert den Wettbewerb auf allen Ebenen.“

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