Buchrezension

Wie unser Bildungssystem gerechter werden kann

Maicke Mackerodt21. Oktober 2016
Suat Yilmaz (Mitte) sucht Talente unter benachteiligten Jugendlichen und sorgt dafür, dass sie gefördert werden.
Suat Yilmaz hat einen außergewöhnlichen Beruf. Er ist der bundesweit bekannteste Talentscout. Der Sozialwissenschaftler sucht talentierte Jugendliche, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder wegen Armut wenig Unterstützung haben und hilft ihnen, den Sprung an die Hochschule zu schaffen. Über seine zum Teil skandalösen, aber auch Mut machenden Erfahrungen und über das deutsche Bildungssystem „Made in Germany“ hat er jetzt das lesenswerte Buch geschrieben: „Die große Aufstiegslüge. Wie unsere Kinder um ihre Zukunft betrogen werden.“

Suat Yilmaz‘ Kernthese: „Dass die Herkunft maßgeblich über die Zukunft junger Menschen entscheidet: Diesen Zustand können wir uns weder sozialpolitisch noch wirtschaftspolitisch oder gar bildungspolitisch leisten.“ Deutschland hat zwar eines der besten Bildungssysteme, ist aber von Bildungsgerechtigkeit Lichtjahre entfernt. Für den Talentscout, der das Projekt "Meine Talentförderung" an der Westfälischen Hochschule koordiniert,  eine „nicht zu fassende Absurdität“. Die Zukunftsaussichten vor allem für Kinder der sogenannten Unterschicht seien in keinem europäischen Industrieland so schlecht wie hierzulande. Im deutschen Bildungssystem bleibt mehr als jeder Zehnte ohne Abitur oder Ausbildung.

Komplexe und kluge Analyse

Woran liegt es, das von 100 Akademikerkindern 77 eine Hochschule besuchen, von 100 Nicht-Akademikerkindern gerade mal 23? Dieser Frage spürt der Sozialwissenschaftler, der  in seiner komplexen und klugen Analyse über die „große Aufstiegslüge“ nach. Der Talentscout kam 1978 selbst mit fünf Geschwistern und den Eltern aus einem ostanatolischen Bergdorf nach Oberhausen. Er war der Erste in der Familie, der sich durch eine schwere Schulzeit biss, Abitur machte und studierte. „Das habe ich ausschließlich einem Lehrer zu verdanken, der an mich glaubte und mich gefördert hat.“ Diese ermutigende Erfahrung gibt er heute weiter: „Denn es gibt es in unserem Bildungssystem Hürden, die sich nur schwer überwinden lassen.“

Anschaulich beschreibt der Sozialdemokrat Yilmaz, dass seine eigene Vergangenheit ihm auch als Muster dient, wenn er die Lebenskontexte scheinbar chancenloser junger Menschen scannt. Der Talentscout und sein Team haben inzwischen Tausenden benachteiligten Mädchen und Jungen Mut gemacht, zu studieren oder ihre Träume so zu verwirklichen. Acht Jahre lang begleitet ein Scout seinen Schützling: Von der Schule über die Universitätsausbildung bis zum Übergang in den Beruf, alternativ auch während einer Berufsausbildung.

Es ist spannend zu lesen, wenn Yilmaz beschreibt, wie er „die Elite von unten“ ausfindig macht und unterstützt. Für Yilmaz sind Talent nicht nur gute Noten, sondern auch ein charismatischer Auftritt beim Schulkonzert. Oder er ermunterte in Bottrop Jugendliche „Die Verfassungsschüler“-Partei zu gründen und sich wirklich zur Wahl zu stellen. Für viele Schüler eine prägende Erfahrung. Er stellt klar: „Mir geht es nicht um die zwei Prozent Top-Leute, sondern um die normalen Talente aus der Mitte.“  Im übrigen soll es „kein wissenschaftliches Buch sein, sondern ist geschrieben aus der Sicht eines Pragmatikers.“ Yilmaz: „Ich wollte die Statistiken aufbrechen und erzählen, was das für den einzelnen Menschen bedeutet, für Kevin, für Julia, für Aishe.“

NRW-Wissenschaftsministerin Svenja Schulze: 22 Millionen Euro für fünf Jahre

Dafür stellte NRW-Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD) 2015 für fünf Jahre 22 Millionen Euro zur Verfügung. Yilmaz sorgte dafür, dass das „NRW-Zentrum für Talentförderung“ in Gelsenkirchen eingerichtet wurde. Der Standort im nördlichen Ruhrgebiet wurde nicht ohne Grund gewählt: Hier leben zu 70 Prozent Nichtakademiker, Hartz-IV-Empfänger, Migranten. Gerade weil jedes dritte Kind unter fünf Jahren in einer Migrantenfamilie aufwächst, gerade weil so viele Flüchtlinge da sind, fordert der Talentscout, das Bildungssystem den heutigen Ansprüchen anzupassen: „Sonst droht eine nie dagewesene Bildungsmisere.“ Das Motto der Unterstützer: "einsteigen, durchsteigen, aufsteigen". Mittlerweile soll das Talentförderungs-Programm auf das ganze Land ausgeweitet werden und weitere Universitäten ins Boot geholt werden.

Suat Yilmaz: „Die große Aufstiegslüge – Wie unsere Kinder um ihre Zukunft betrogen werden“, Eichborn Verlag, ISBN: 978-3-8479-0620-9, Preis 20 Euro, zu bestellen u. a. in der vorwärts-Buchhandlung.

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