Umfrage

Was die Corona-Krise für die Jugendämter bedeutet

Carl-Friedrich Höck21. April 2021
Homeschooling statt Klassenraum: Für viele Kinder hat das Auswirkungen auf Bildungserfolge, soziale Kontakte und die persönliche Entwicklung. (Symbolfoto)
Bildungsrückstand, fehlende soziale Kontakte, weniger Ausbildungsplätze: Die Corona-Pandemie trifft Kinder und Jugendliche besonders hart. Das zeigt eine Umfrage in den Jugendämtern. Familienministerin Giffey will ein milliardenschweres Aufholprogramm für Kinder und Jugendliche aufsetzen.

Wegen der Corona-Pandemie erwarten die Jugendämter gestiegene Handlungsbedarfe. Das geht aus einer Umfrage hervor, die das Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism) in Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter (BAG LJÄ) erstellt hat. Etwa 300 der 559 deutschen Jugendämter haben sich an der Befragung beteiligt. Am Mittwoch wurden die Ergebnisse vorgestellt.

Wen die Pandemie besonders hart trifft

Befragt wurden sie zum Beispiel danach, welche Familien und Altersgruppen ihrer Einschätzung nach besonders von den Folgen der Pandemie betroffen sind. Sehr starke Auswirkungen erwarten die Jugendämter auf Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren. Betroffen seien insbesondere bildungsferne Familien, Familien in prekären Lebenslagen, Alleinerziehende und Eltern mit psychischen oder Suchterkrankungen.

Die Mitarbeitenden der Jugendämter haben laut der Studie in zahlreichen Lebensbereichen eine Verschlechterung festgestellt. Die schulische Teilhabe sei nur noch eingeschränkt verfügbar. Der Kontakt zu Gleichaltrigen sei ebenso weggebrochen wie viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Zurückgegangen seien auch ehrenamtliche Tätigkeiten wie das Engagement in Vereinen. Letzteres könne sich langfristig auf die Gesellschaft auswirken, glaubt Ism-Geschäftsführer Heinz Müller. Denn es gebe nur ein kleines Zeitfenster, in dem junge Menschen beginnen, sich bei der Feuerwehr, dem THW oder als Messdiener zu engagieren. Das Engagement halte dann aber oft ein Leben lang an.

Auf Ämter kommt zusätzliche Arbeit zu

Die Pandemie wirkt sich auch auf die Kinder- und Jugendhilfe aus. Die Mitarbeitenden berichten von einem steigenden Arbeitsbedarf in allen Bereichen. Ganz besonders betrifft das die Erziehungsberatung, Schulsozialarbeit und Jugendsozialarbeit. Starken Mehrbedarf gebe es auch beim Kinderschutz. Der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter Lorenz Bahr berichtet: „Früher haben Kitas und Schulen Hinweise gegeben, wenn beim Kinderschutz etwas im Argen lag. Im Lockdown sieht das anders aus.“ Die Jugendämter seien darauf angewiesen, dass auch andere die Augen aufhalten.

Um aus der Pandemie zu lernen, wollen die Befragten mehr alltagsnahe und zugängliche Bildungsangebote schaffen, niedrigschwellige Unterstützungsstrukturen schaffen (etwa offene Räume für Jugendliche oder Familienbildung) und die digitale Ausstattung der Jugendämter verbessern.

Mehr Schulabbrecher*innen

Die langfristigen Folgen der Pandemie schätzen die Jugendamts-Mitarbeitenden pessimistisch ein: Die Lebenssituation von benachteiligten Kindern, Jugendlichen und Familien habe sich weiter verschlechtert. Bei vielen jungen Menschen konnten Bildungsrückstände nicht aufgeholte werden, berichten die Ämter. Bestimmte Gruppen von jungen Menschen und Familien habe man gar nicht mehr erreichen können. Zudem sei der Bedarf an Einzelfallhilfen deutlich gestiegen.

Ein Beispiel: Die BAG LJÄ geht davon aus, dass in den beiden Pandemiejahren 2020 und 2021 zusammen knapp 210.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen – etwa doppelt so viele wie in Nicht-Pandemiezeiten. Die Jugendämter müssten sich um die Schulabbrecher*innen kümmern, sagt Lorenz Bahr. „Diese Jugendlichen brauchen soziale und psychologische Beratung, vor allem aber auch ein Angebot zur Vorbereitung auf eine Ausbildung.“

Ism-Geschäftsführer Müller fordert eine Gesamtstrategie für die Kinder- und Jugendhilfe in der Zeit nach Corona. Es werde fünf Jahre dauern, um die Defizite aufzuholen, die in zwei Jahren entstanden sind. Die Kommunen und ihre Kämmerer müssten sich bewusst machen, dass die Unterstützungsbedarfe gestiegen seien – bestehende Probleme hätten sich verfestigt und es seien neue Gruppen mit Hilfebedarf hinzugekommen. Die Kommunen könnten die Lasten aber auch nicht alleine tragen. Bund, Länder und Kommunen müssten einen Kinder- und Jugendhilfefonds einrichten. Das fordert auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Der Fonds solle mit 5,6 Milliarden Euro bis zum Jahr 2027 ausgestattet werden.

Giffey kündigt milliardenschweres Aktionsprogramm an

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) plant bereits konkrete Unterstützung. Sie will ein Aufholprogramm für Kinder und Jugendliche ins Leben rufen und mit zwei Milliarden Euro ausstatten. Das kündigte sie am Mittwoch in einem Gespräch mit Jugendamts-Vertreter*innen an.

Mit dem Geld soll unter anderem Nachhilfe finanziert werden, um Lernrückstände aufzuholen. Es gehe aber auch darum, auf psychische Pandemiefolgen für Kinder und Jugendliche zu reagieren, sagte Giffey. Ein weiterer Schwerpunkt sei die frühkindliche Bildung – so gebe es Aufholbedarf bei der sprachlichen Entwicklung, da die Kinder lange nicht in den Einrichtungen waren. Zudem umfasse das Programm die Punkte Schulsozialarbeit, außerschulische Bildungseinrichtungen und Förderung von Freizeitangeboten wie Familienfreizeit oder Kinder- und Jugendfreizeit. Sie wolle das Aufholprogramm am Mittwoch im Bundeskabinett besprechen. Weitere Details werde sie dann gemeinsam mit Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) vorstellen.

Kinder- und Jugendstärkungsgesetz geht auf die Zielgerade

An diesem Donnerstag soll der Bundestag außerdem eines der Flaggschiffprojekte der Familienministerin beschließen: Das Parlament stimmt über das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz ab. Damit will Franziska Giffey Kinder und Jugendliche aus einem belastenden Lebensumfeld besser schützen und ihnen mehr Chancen auf Teilhabe geben. Zum Beispiel sollen die Anforderungen erhöht werden, die Kinderheime und andere Einrichtungen für die Erteilung einer Betriebserlaubnis erfüllen müssen. Die Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und anderen Akteur*innen im Kinderschutz soll ausgebaut und verbessert werden.

Giffey sagte, der Reform des Kinder- und Jugendrechts sei ein „beispielloser Beteiligungsprozess“ vorausgegangen. Nun sei wichtig, dass auch der Bundesrat dem Gesetz zustimmt.

 

Mehr Informationen:
Die ism-Jugendamtsbefragung ist auf forum-transfer.de veröffentlicht.

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