Alter

Demenz: Alternativen zum klassischen Pflegeheim

Maicke Mackerodt15. Oktober 2018
Eine dörflich gestaltete Einrichtung für demenzkranke Menschen: AWO Süssendell in der Rureifel.
Wie Menschen mit Demenzerkrankungen selbstbestimmt und in familiärer Athmosphäre leben. Zwei Beispiele: Spezielle WGs der GAG Immobilien in Köln und das besondere AWO-Seniorenzentrum Süssendell in der Eifel.

Mittagessen in der „Alten Wipperfürther“. Fünf Bewohnerinnen sitzen um den Holztisch, eine Pflegerin füttert die hochbetagte Frau R. Das frisch zubereitete Essen steht auf der Anrichte der offenen Küche. Die Vögel in der Voliere zwitschern, es wird geplaudert, die meisten haben vergessen, dass sie bis eben gemeinsam gespielt haben. Anneliese Kryßon (82) lebt seit Anfang des Jahres in der Demenz-Wohngemeinschaft (WG) in Köln-Buchheim. „Sie wurde aus dem Heim hinausgeworfen, weil sie zweimal weggelaufen war. Jetzt sitzt sie hier, spielt fröhlich“, erzählt ihre Tochter Monika Kryßon. „Meine Mutter liebt es, Servietten zu falten. Mitwirken, selbst gestalten, all das war in stationären Einrichtungen unerwünscht.“

Leben in einer „selbstverantworteten WG“

Als der Mann starb, konnte Anneliese Kryßon nicht mehr allein im eigenen Haus am Niederrhein bleiben. Drei Jahre lebte sie in stationären Einrichtungen, bis die Tochter sie als ihre Betreuerin zu sich nach Köln holte. Jetzt lebt die Mutter in einer „selbstverantworteten WG“ und Tochter Monika schaut mehrmals die Woche nach ihr. Einfach so oder um nach dem Hochbeet auf der geräumigen Sonnenterrasse zu sehen. Oder wenn es für die Angehörigen alle sechs Wochen etwas zu besprechen gibt. Die acht Frauen haben jede ein geräumiges Einzelzimmer mit barrierefreiem Bad. Es gibt Wohnküche, Fernsehecke, Hauswirtschaftsraum. Eigene Bettwäsche, eigene Möbel werden mitgebracht. In Köln hat die GAG Immobilien AG (die Stadt Köln hält mehr als 80 Prozent der Anteile) in Buchheim ihre achte Demenz-WG eröffnet. Alle sind 360 Quadratmeter groß.

Die Demenz-WG „Alte Wipperfürther“ – oder „Ahl Wipp“ wie Einheimische die gleichnamige Straße nennen – ist inte­griert in die neue Wohnanlage Carlswerk-Quartier. Mitten in der Stadt. Im Unterschied zu stationären Heimen werden die WG-Bewohnerinnen – nur Frauen dürfen hier einziehen – vom ambulanten Dienst gepflegt und betreut, der die Präsenz- und Pflegekräfte stellt. Von 6.30 Uhr bis 21.30 Uhr sind zwei Pflegekräfte in zwei Schichten da, nachts eine Mitarbeiterin. „Eine gute Quote“, so Monika Kryßon. Nachmittags kommt eine Kraft zum Malen, Singen Basteln. Weitere Besonderheiten: Ambulant betreute WGs werden besonders gefördert: Viele Kommunen zahlen in NRW feste Zuschüsse – der Oberbergische Kreis, Bergisch Gladbach, Köln und Leverkusen. Ein Beirat von „Wohnkonzepte Schneider“ kümmert sich in insgesamt 14 selbstverantworteten Kölner Demenz-WGs um die Abrechnungen.  

GAG entwickelt „Kölner GbR-Modell“

Von der GAG wurde eigens das sogenannte Kölner GbR-Modell entwickelt: Die acht Bewohnerinnen in Buchheim sind selbst Trägerinnen ihrer Einrichtung, d.h. die Angehörigen schließen sich zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) zusammen. „Wir entscheiden, wer einzieht, was angeschafft wird, wir haben einen Mietvertrag mit der GAG“, so Monika Kryßon. Als Vize-Geschäftsführerin der GbR ist sie zwar sehr stark eingebunden, aber die Vorteile überwiegen: „Wir können mitbestimmen, was für die Mütter gekocht wird, den Tagesablauf gestalten und Ausflüge organisieren.“ Auch das Weglaufen ihrer Mutter hat aufgehört: Die Eingangstür ist als Bücherregal verkleidet.

Die erste Demenz-WG wurde Ende der 90er Jahre in Berlin gegründet. Die Nachfrage ist mittlerweile auch an Rhein und Ruhr hoch. Viele Städte bieten Einrichtungen mit acht bis zwölf Plätzen für Demenzkranke – die meisten voll belegt. Demenz-WGs sind eine beliebte Alternative zu Pflegeheimen geworden, berichten Wohlfahrtsverbände und Alzheimergesellschaften. Die Bewohner ziehen oft in einem frühen Stadium der Krankheit ein und leben dann mehrere Jahre in der Gemeinschaft. Teilweise bis zu ihrem Tod. Auch wenn WGs für Angehörige wie Monika Kryßon mehr Aufwand bedeuten: „Das familiäre Konzept hat mich gleich überzeugt, als ich mit meiner Mutter einmal zur Probe hier war.“ Und: Das WG-Modell ist deutlich preiswerter. „Die meisten beziehen hier Sozialhilfe und Wohngeld. Meine Mutter zahlt einen Eigenanteil von 1.500 Euro. Das sind 800 bis 1.000 Euro weniger als im klassischen Pflegeheim. Das macht sich deutlich bemerkbar.“

AWO Süssendell: Eine Oase in der Rureifel

Was auf den ersten Blick wie eine moderne Ferienanlage aussieht, ist eine dörflich gestaltete Einrichtung für demenzkranke Menschen. Am Fuße des Nationalparks Eifel, mitten im Wald, stehen auf einer Lichtung fünf farbige Bungalows. Auf den flachen Dächern wächst Gras, Vögel zwitschern, knallbunt lackierte Bänke mit kecken Sprüchen laden zum Verweilen ein. Auf dem Dorfplatz dösen ein paar Senioren in der Sonne, andere sitzen vor dem Café Beate. Das inflationär benutzte Wort idyllisch, auf diese Oase passt es perfekt.

Ganz in der Nähe von Aachen und Stolberg hat die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Mittelrhein vor zweieinhalb Jahren das Seniorenzentrum Süssendell eröffnet. „Erst haben Architekten das Projekt speziell für die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz konzipiert, dann wurde das Baugelände gesucht“, so AWO-Pflegemanager Stephan Enzweiler. Für den Altenhilfe-Koordinator passt „die Abgeschiedenheit in der Rureifel perfekt zu Menschen, die demenziell verändert sind“. Acht Millionen Euro hat die AWO in ihr „Leuchtturmprojekt“ investiert. Dazu gehört auch das weitläufige Gelände von 1,5 Hektar mit viel Wald drumherum, wo zuletzt ein Hotel mit verfallenem Ausflugslokal stand.

Täglich frisch gekochtes Essen

In Süssendell leben 80 Frauen und Männer, aufgeteilt in fünf Wohngruppen mit jeweils 16 Bewohnern. Jeder hat ein Einzelzimmer mit Blick ins Grüne. Wer möchte, bringt Möbel mit, dekoriert selbst. Erlaubt ist, was guttut. Der monatliche Eigenanteil liegt – je nach Pflegegrad – bei etwa 2.600 Euro. Zusammen mit Verwaltung, Hauswirtschafts- und Pflegekräften kümmern sich etwa 90 Mitarbeiter um die Senioren. „Größere Wohngruppen wären effizienter. Da müssen wir mit spitzem Bleistift rechnen“, so Stephan Enzweiler. „Das war von Anfang an so geplant: Keine stationäre Einrichtung, sondern ein Wohnhaus für alte Menschen.“

Dazu gehört auch: Jedes der fünf Häuser hat eine eigene Küche. „Wer Lust hat, putzt Salat mit, keiner ist verpflichtet, etwas zu leisten“, sagt Pflegedienstleiter Klas Bauer. „Gekocht wird täglich frisch.“ Keiner soll einsam auf seinem Zimmer sitzen, alle Wege führen quasi vom Zimmer aus direkt zum Dorfplatz. Hier laufen sich Bewohnerinnen und Betreuerinnen – Frauen sind eindeutig in der Überzahl – über den Weg. Wer Lust hat, beobachtet im Atrium die Kaninchen, schaut in der Gärtnerei vorbei oder hilft in der Wäscherei. Dienstags kommt die Frisörin, wer möchte, badet vorher. Die hypermoderne Badewanne im barrierefreien Pflegebad gereicht jedem Luxushotel zur Ehre.

„Den Menschen ganzheitlich sehen“

„Die demenzkranken Menschen können in Süssendell weitgehend selbstbestimmt entscheiden, was sie den ganzen Tag tun und lassen“, sagt Klas Bauer Das erfordert ein gut abgestimmtes Team. Die meisten Bewohner sind 80 Jahre und älter, viele stehen unter Vormundschaft. Sie werden alle respektvoll gesiezt, auch das gehört zum AWO-Leitbild: „Jeder darf seine Freiheit entfalten. Wir wollen den Menschen ganzheitlich sehen, mit allen Sorgen, Nöten und schönen Dingen. Die Mitarbeiter betreuen ein Haus von Dienstbeginn bis Dienstende, nehmen die Menschen so viel besser wahr.“ An Besucher richtet sich die sorgsam formulierte „Haus-Unordnung“, die im gemeinschaftlichen Wohn-Essbereich hängt.  

Das erste sogenannte Demenzdorf Deutschlands wurde 2014 in Tönebön bei Hameln eingeweiht. Süssendell war die zweite Einrichtung und hat sich überregional einen guten Ruf erworben. Nur der Begriff Demenzdorf stößt hier auf Widerspruch: „Es gibt ja auch kein Krebsdorf“, so Klas Bauer, „Menschen auf ihre Krankheit zu reduzieren, ist nicht in Ordnung“.

Sechs Dörfer für Demenzkranke in Deutschland

Mittlerweile gibt es bundesweit sechs solche Dörfer. Fast alle sind hermetisch abgeriegelt. Dieses Konzept widerspricht der sozialen Teilhabe und der Inklu­sion. Und es widerspricht dem Geist von ­Süssendell. Hier gibt es keine falschen Bushaltestellen, keinen Pförtner. Für jene, die starken Laufdrang haben – typisch für das mittlere Stadium der Krankheit, wurden an Ausgängen Induktionsschleifen montiert. Vorausgesetzt Betreuer und Bewohner sind einverstanden, klingelt es beim Pflegepersonal, wenn jemand das Gelände verlässt.

Acht der Bewohner haben besonders starken Bewegungsdrang, typisch für ein frühes Stadium der Demenz. Es gibt keine Zäune, nur Hecken, sie können also jederzeit in den Wald. Kein Problem für die Heimleitung, die ihre Ausreißer kennt und vorsorglich – nach Absprache – mit GPS-Trackern ausgerüstet hat. Vor einem Jahr geriet das „Konzept ohne Grenzen“ massiv in die Kritik. Eine Frau war ausgebüxt, die Suche blieb erfolglos. Sie starb am nächsten Tag an den Folgen ihrer Unterkühlung. Die Angehörigen machten dem AWO-Team Mut, weiterzumachen, sich nicht beirren zu lassen. Jetzt gibt es einen eigens ausgeschilderten AWO-Rundwanderweg. „Die Selbstbestimmung soll eingehalten werden. Das ist der höchste Wert und den leben die Mitarbeiter. Die Menschen sollen ja laufen, damit sie nicht die Mobilität verlieren“, so Stephan Enzweiler. Und wenn sie nur bis zum Eingang gehen, wo demnächst zwei Esel im Gehege stehen.