Erinnerungskultur

„Denkmalstürze erregen große Aufmerksamkeit”

Carl-Friedrich Höck02. Dezember 2020
Zeugnisse der Geschichtskultur im öffentlichen Raum sind auch Straßenschilder – hier in Berlin Karl-Marx-Straße.
Straßennamen und Denkmäler repräsentieren das Geschichtsbewusstsein einer Stadt, sagt Saskia Handro. Aktuell wird in Deutschland kontrovers diskutiert, welche Ehrungen noch angemessen sind. Die Geschichtsdidaktik-Professorin warnt davor, Vergangenheit zu entsorgen, ohne sich produktiv damit auseinanderzusetzen

In den USA ist es zuletzt zu einer Reihe von Denkmalstürzen gekommen – in Bristol wurde eine Sklavenhändlerstatue in den Hafen geworfen. Erwarten Sie, dass die Ereignisse sich auch auf Deutschland auswirken?

Nicht direkt, denn generell sind Denkmalstürze kein neues Phänomen. Häufig werden sie als Revolutionsrituale gesehen. 1945, 1989 – immer wenn es darum geht, den Bruch mit gesellschaftlichen Ordnungen zu dokumentieren, werden Denkmale gestürzt. Das zeigt sich auch an den amerikanischen Entwicklungen: Bisher „stumme“ Gruppen und verdrängte Geschichten werden öffentlich diskutiert und es wird eine Anerkennung des Unrechts und der Opfer eingefordert. Ehemalige Sklavenhalter oder Kolonialherren gelten eben nicht mehr als Helden.

Können Sie Beispiele aus Deutschland nennen?

Prof. Saskia Handro Foto: Institut für Didaktik der Geschichte (Münster)

In Deutschland sind Denkmalstürze oder die Umwidmung von Denkmalen ein Phänomen, das uns in den Kommunen schon seit den 1980er Jahren begleitet. Wir haben gestürzte oder umgewidmete Kolonialdenkmale wie in Hamburg. Und es wurden neue Denkmale errichtet, die für vorherige Generationen unvorstellbar gewesen wären. Die Initiative zum Berliner Holocaustmahnmal war noch in den 1980er Jahren sehr umstritten. Heute gehört es zur Erinnerungskultur jeder Kommune, an diese Geschichte zu mahnen und zu erinnern – zum Beispiel mit Stolpersteinen. Ebenso waren ­Deserteursdenkmale wie in Hannover lange völlig undenkbar. Wir sprechen von einem Prozess, der in zwei Richtungen funktioniert: Die gesellschaftliche Deutung historischer Personen und Ereignisse wandelt sich, und der Diskurs wirkt sich dann auch auf die Symbolebene aus. Allerdings erregen Denkmalstürze große Aufmerksamkeit. Vielerorts beteiligen sich auch Bürgerinnen und Bürger an der Debatte, die sich in einen rein wissenschaftlichen Diskurs nicht eingebracht hätten. Denn mit dem Denkmal entschwindet auch etwas Selbstverständliches aus ihrem Alltag.

An Personen, die mit Denkmälern oder Straßennamen gewürdigt werden, entzünden sich immer wieder Debatten. Ein Beispiel: Der Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) prägte den antisemitischen Ausruf „Die Juden sind unser Unglück“. Warum gibt es trotzdem noch Treitschkestraßen?

Treitschke war Historiker, Publizist, Reichstagsmitglied und stach durch klare politische Positionierung hervor. Er provozierte schon zu seiner Zeit mit antisemitischen Schriften und hat dazu beigetragen, die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ historisch zu legitimieren. Heute würden wir Treitschke nicht mehr ehren, denn all das passt nicht zu unserem Normen- und Wertehorizont. Aber im 19. Jahrhundert waren seine nationalistisch-antisemitischen Geschichtsdeutungen in breiten Kreisen anschlussfähig. Nach seinem Tode im Jahr 1896 wurden daher viele Straßen nach ihm benannt: In Nürnberg, Heidelberg oder Berlin. 1945 wurden in Nürnberg nach Antisemiten benannte Straßen aus dem Straßenbild getilgt, das betraf auch die Treitschkestraße. In Berlin-Steglitz und in Karlsruhe haben wir nach wie vor anhaltende Debatten.

Als das in Steglitz in der Bezirksverordnetenversammlung diskutiert wurde, hat niemand bestritten, dass Treitschke ein Antisemit war. Vielmehr kommen pragmatische Argumente: Was kostet eine Umbenennung? Welcher Aufwand ist damit verbunden? Manche sagen: Mein Straßenname ist Teil meiner Identität. Ein weiteres Argument – und das ist bedenkenswert – lautet, dass man Vergangenheit nicht einfach entsorgen könne. Man müsse sich kritisch damit auseinandersetzen. Das ist auch in den meisten Städten geschehen, wo die Treitschkestraße beibehalten wurde: Man hat Zusatzschilder oder Stelen angebracht, um den Namensgeber der Straße historisch einzuordnen und zu dokumentieren, dass man sich von seinen Positionen distanziert. Damit wird auch ein gesellschaftlicher Lernprozess im öffentlichen Raum ausgestellt.

Halten Sie einordnende Erklärtafeln für eine sinnvolle Idee?

Einerseits sind solche Tafeln eine Möglichkeit, um sich von Teilen des Handelns einer historischen Person zu distanzieren. Außerdem wissen wir heute oft gar nicht mehr, welche Geschichten sich hinter einem Straßennamen verbergen. So ein Zusatzschild kann ein Einstieg sein, um sich damit auseinanderzusetzen und Vergangenes auch neu zu bewerten. Auf der anderen Seite darf man das nicht inflationär einsetzen. Straßennamen haben in erster Linie eine räumliche ­Orientierungsfunktion. Sie sind keine Geschichtsbücher.

Historische Persönlichkeiten wie Luther, Kant oder Marx haben sich ebenfalls judenfeindlich oder rassistisch geäußert. Ist es unangemessen, historische Personen an heutigen Wertmaßstäben zu messen?

Die Aufzählung zeigt gut, dass es über verschiedene Epochen hinweg eine Kontinuität antisemitischer und rassistischer Vorstellungen in der deutschen ­Ideen- und Geistesgeschichte gab. Das ist erstmal ein Befund. Zu unserer Erinnerungsnorm gehört es heute – aufgrund der Erfahrung des Zivilisationsbruches Holocaust, uns von genau diesen Positionen zu distanzieren. Das Problem bei personengebundenen Ehrungen ist, dass es nur zwei Kategorien gibt: „zu ehren“ und „nicht zu ehren“. Eine Ehrung ist eben etwas anderes als ein Diskurs um eine historische Persönlichkeit. Das Wirken und Werk einer historischen Person ist sehr vielschichtig und auch widersprüchlich. Und es gibt immer unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die diese Personen aus verschiedenen Gründen als traditionsbildend sehen – Karl Marx kann als Kapitalismuskritiker erinnert werden oder als Ikone einer sozialistischen Diktatur. Es gibt nichts Schwierigeres, als mit der hohen Messlatte der Ehre an komplexe Biografien heranzugehen.

Sicher würde kaum noch eine Kommune heute Straßen nach Bismarck oder Thälmann benennen. Aber haben solche Straßennamen – quasi als Zeugnisse der Geschichte – einen eigenen Quellenwert?

Es sind übereinander gelagerte Schichten, in denen sich regionale, lokale und nationale Geschichte im Stadtbild niederschlägt. Wenn ich durch eine Fleischergasse gehe, gibt es dort vielleicht keinen Fleischer mehr – aber ich weiß, dass im Mittelalter einmal die Metzger hier angesiedelt waren. Straßennamen sind so auch eingebettet in symbolisch zusammenhängende Stadträume. Eine Kommune mit einer Bismarckstraße hat oder hatte oft auch ein Bismarckdenkmal an einem öffentlichen Platz wie in Essen oder einen Bismarckturm wie in Bochum. Wir würden uns ein Stück weit blind durch eine Stadt und ihre Geschichte bewegen, wenn all diese Spuren beseitigt werden. Zur lebendigen Erinnerungskultur einer Kommune gehören auch umstrittene oder belastende Vergangenheiten, von denen man sich distanzieren möchte. Diese historische Tiefenstruktur geht bis in die Straßennamen hinein. Es ist nicht zuträglich zu sagen: Bismarck spielt jetzt keine Rolle mehr für uns, deshalb sollten alle Kommunen ihre Bismarckstraßen umbenennen. Das wäre eine falsche Bereinigungskultur, damit würde man Vergangenheit entsorgen, ohne sich produktiv damit auseinanderzusetzen.
 
Wie wichtig ist es, dass moderne gesellschaftliche Debatten sich auch im Straßenbild widerspiegeln? Etwa, indem die Rolle von Frauen oder die Geschichte von Migranten sichtbarer gemacht werden?

Straßennamen und Denkmäler repräsentieren das Geschichtsbewusstsein einer Stadt. Deshalb ist entscheidend, dass man sich auch über die damit verbundenen Machtstrukturen und weißen Flecken bewusst wird. Kommunen sollten also nicht nur diskutieren, welche Straßennamen abgehängt werden sollen, sondern auch schauen: Wie haben sich die Identitätsbedürfnisse in unserer Stadt verändert? Welche Traditionen sind zukunftsfähig? Oder: Wenn wir uns als Migrationsgesellschaft ernst nehmen, muss über den Umgang mit kolonialen Straßennamen diskutiert werden. Und dann sollte(n) auch die Geschichte(n) von Bürgern mit Migrations­hintergrund in unsere Geschichtskultur integriert werden.

Das SPD-Geschichtsforum und die Bundes-SGK haben ein Papier mit Handlungsempfehlungen veröffentlicht. Sie haben daran mitgewirkt. Welche Tipps würden Sie einer Kommune, die über eine Umbenennung entscheiden soll, mit auf den Weg geben?

Im Geschichtsforum bestand Konsens darin, dass wir zwischen dem Kontext der Benennung und der heutigen Bewertung unterscheiden müssen. Deshalb sollte zunächst eine gemeinsame Informationsgrundlage für die Debatte gelegt werden: zur Biografie des Geehrten und dem historischen Kontext der damaligen Entscheidung. Teilweise sind Kommunen dazu übergegangen, Informationsportale zu erstellen. Man kann die Debatte auch mit einer Ausstellung begleiten. Wichtig ist ebenso, Beteiligungsforen zu schaffen, wo Bürgerinnen und Bürger ihre Argumente vorbringen können. Es sollten möglichst breite gesellschaftliche Gruppen beteiligt werden, zum Beispiel, indem man Schülerinnen und Schüler aktiv einbindet. Und ich rate dazu, die Debatten zu dokumentieren, und zwar nicht nur das Ergebnis, sondern auch den Prozess. Diese Aufgabe kann das Stadtarchiv übernehmen. Straßennamendebatten sind mit vielen Emotionen verbunden. Sie erhalten viel Aufmerksamkeit, mehr als es Vortragsabende oder Ausstellungen üblicherweise tun. Darin liegt auch die Chance, eine historische Debatten- und Argumentationskultur in den Kommunen zu fördern.

Das Papier „Überlegungen und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Initiativen zur Umbenennung von Straßen und Umgestaltung oder Entfernung von Denkmälern“ des SPD-Geschichtsforums und der Bundes-SGK ist online hier veröffentlicht:
 

Zur Person

Prof. Dr. Saskia Handro ­wurde 1969 in Leipzig geboren. Nach einem Studium der Geschichte, Germanistik und Altphilologie schloss sie 1994 ihr Erstes Staatsexamen für Lehramt an Gymnasien ab. Im selben Jahr absolvierte sie einen Studienaufenthalt an der Ohio ­University. Es folgten eine Promotion an der U­niversität Leipzig 2001 und eine Junior-Professur für Didaktik der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Sie lehrte Geschichtsdidaktik an den Universitäten Dortmund und Duisburg-Essen.

Seit 2006 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. In ihren Publikationen befasste sie sich unter anderem mit Geschichtskultur und historischem Lernen. Saskia Handro gehört dem Geschichtsforum der SPD an. CFH