Europa

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Erwartungen der progressiven Städte und Regionen

SPE -Fraktion30. Juni 2020
Am 1. Juli 2020 übernimmt Deutschland für sechs Monate die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union (EU).
Die Corona-Pandemie stellt auch für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli beginnt, eine Herausforderung dar. Hier wurden einige Stimmen zu den Kernerwartungen und Forderungen progressiver Städte und Regionen gesammelt.

Die Corona-Pandemie stellt auch für die deutsche EU-Rtspräsidentschaft, die am 1. Juli beginnt, eine Herausforderung dar. Das ursprünglich geplante Programm musste auf den „Corona-Prüfstand“ und wichtige neue politische Vorhaben kurzfristig aufgenommen werden. Besonders die Verhandlungen zum europäischen Wiederaufbauinstrument „Next Generation EU“ und zum Mehrjährigen Finanzrahmen ab 2021 werden das politische Geschehen im 2. Semester 2020 prägen. Welches sind die Kernerwartungen und Forderungen progressiver Städte und Regionen an die deutsche Ratspräsidentschaft? Wir haben einige Stimmen eingefangen.

Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister der Stadt Mannheim und Mitglied der SPE-Fraktion

Peter Kurz Foto: MVV Energie AG

„Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ – unter dieses Leitmotto hat Deutschland seine EU-Ratspräsidentschaft gestellt und belegt damit, dass man sich der hohen Erwartungen an diese Präsidentschaft sehr bewusst ist.

Die Corona-Krise war und ist eine ernste Herausforderung für die europäische Integration. Glücklicherweise können wir - nachdem anfänglich das unkoordinierte Agieren der einzelnen Nationalstaaten das Bild prägte - nun feststellen, dass die europäischen Institutionen die Tragweite der Herausforderung erkannt haben und Maßnahmen ergreifen, die in der Geschichte der EU ohnegleichen sind. Hierbei gilt es, die richtige Zielsetzung im Auge zu behalten. Als Oberbürgermeister einer in Europa fest verwurzelten Stadt habe ich drei Kernanliegen an die deutsche EU Ratspräsidentschaft.

Erstens: Die Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU werden die kommenden sechs Monate prägen. Dabei muss die Bundesregierung berücksichtigen, dass es die europäischen Städte sind, die aufgrund der Größe und Dichte der Infrastruktur noch über Monate hinweg ganz erheblich mit den Folgen der Pandemie werden kämpfen müssen. Dort waren und sind die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem am gravierendsten, dort waren und sind die wirtschaftlichen Schäden am größten. Die Einnahmeausfälle im ÖPNV sind nur ein Beispiel hierfür. Die nun zu beschließenden finanziellen Hilfsmaßnahmen müssen deshalb dort ankommen, wo sie am dringendsten benötigt werden – in den europäischen Städten. Unsere Erfahrungen mit den europäischen Regionalmitteln belegen, dass es nicht sinnvoll ist, wenn mehrere staatliche Ebenen bei der Umsetzung von EU-Politiken zwischengeschaltet werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft muss sich daher für einen direkten Zugang der Städte zum europäischen Wiederaufbauinstrument - Next Generation EU - einsetzen. Als Städte wissen wir hier weite Teile der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments an unserer Seite. Der Ball liegt nun im Feld der europäischen Mitgliedstaaten.

Zweitens: Ein erheblicher Teil der europäischen Wiederaufbauhilfen ist kreditfinanziert. Es muss daher oberste Priorität für die Ratspräsidentschaft sein, dass die Mittel, die die EU nun ausgibt, die Wirtschaftskraft und die Lebensweise der nachfolgenden Generationen vor den schlimmsten Folgen der Rezession schützt. Die Investitionsschwerpunkte müssen in allen europäischen Ländern auf eine sozial und ökologisch gerechte Transformation und den europäischen grünen Deal abgestimmt sein.

Drittens: Die deutsche Ratspräsidentschaft muss die Konferenz zur Zukunft Europas, mit der sich große Erwartungen an Bürger/innenpartizipation und institutionelle Reformen verbinden, endlich auf den Weg bringen. Hierzu bedarf es zunächst einer Einigung unter den EU-Mitgliedstaaten, die die deutsche Ratspräsidentschaft schnell herbeiführen sollte. Die Städte stehen – als bürger/innennächste politische Ebene   der EU gerne als Partner bei der Durchführung der Konferenz zur Zukunft Europas als breit angelegtem partizipativem Prozess zur Verfügung.

Heike Raab, Staatssekretärin und Bevollmächtigte des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und für Europa, für Medien und Digitales und Mitglied der SPE-Fraktion

Heike Raab Foto: Landesvertretung Rheinland-Pfalz/Marc-Steffen Unger

Die Corona-Krise hat die große Solidarität innerhalb der EU ebenso offengelegt wie weiterhin bestehende Defizite. Bisher haben alle Krisen die EU gestärkt – dafür, dass dies auch diesmal gelingt, wird die deutsche EU-Ratspräsidentschaft mitentscheidend sein. Es ist nicht nur unsere Chance, sondern Deutschlands Verantwortung, im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft alle Mitgliedstaaten zusammenzubringen, Kooperationsbereitschaft zu erzeugen und neue Mechanismen der Solidarität (mit-) anzustoßen. Es geht um die Aufrechterhaltung der EU-Integration an sich.

Die Länder werden sich im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft aktiv und intensiv am europapolitischen Diskurs beteiligen. Sie sprechen sich daher für die Achtung ihrer Zuständigkeiten und die weitere Stärkung der Partizipations- und Informationsmöglichkeiten der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften in Europa aus. Das betrifft die Vertiefung des politischen Dialogs ebenso wie die Einbeziehung des Europäischen Ausschusses der Regionen und die Stärkung der Stellung der Landes- und Regionalvertretungen in Brüssel.

Die Länder appellieren an die Bundesregierung, bei der Erörterung im Rat ein besonderes Augenmerk auf die Wahrung der Subsidiarität zu legen und im Interesse von Bürgernähe und der Aufrechterhaltung regionaler Gestaltungsspielräume, besonders die im Wortlaut weit gefassten Kompetenzklauseln (wie beispielsweise die Binnenmarkt-kompetenz, Art. 114 AEUV) selbstbeschränkend und behutsam zu nutzen. Erweiterte Folgenabschätzungen zu den regionalen, territorialen und grenzübergreifenden Auswirkungen würden es den nationalen und regionalen Parlamenten erleichtern, zu den Vorschlägen vertieft Stellung zu nehmen. Bei allen neuen Maßnahmen und dem nächsten langfristigen EU Haushalt müssen die regionalen und lokalen Erfahrungen zum Tragen kommen.

Isolde Ries, Erste Vizepräsidentin des Saarländischen Landtags und Mitglied der SPE-Fraktion

Isolde Ries Foto: SPD-Landtagsfraktion/Tom Gundelwein

Es ist kein Jahr her, dass die Frage der Ausgestaltung der EU-Ratspräsidentschaft wesentlich von der Frage getrieben wurde, ob die aktuelle Bundesregierung bis dahin überhaupt noch im Amt ist. Im Mittelpunkt stand die Erarbeitung des Mehrjährigen Finanzrahmen der EU und die Diskussion um einen Green New Deal.

Nicht ein Jahr später hat sich vieles verändert. Die unmittelbaren Auswirkungen der Corona-Pandemie auf nationale Gesundheitssysteme, Bildungseinrichtungen und die europäische Wirtschaft sind fatal. Grenzschließungen ohne angemessene Absprache mit unseren Partnern haben viel diplomatisches Geschirr zerrschlagen, gerade auch im Saarland. Die Krise hat gnadenlos die Schwächen der Europäischen Union offenbart. Deshalb spricht vieles dafür, dass sich unserer Vorstellung von europäischer Partnerschaft weiterentwickeln muss, um die Herausforderungen einer globalisierten Welt zu bewältigen.

Deshalb sollte die bevorstehende EU-Ratspräsidentschaft zwei Dimensionen umfassen: Akute Krisenbewältigung und Lehren aus der Krise. Zur akuten Krisenbewältigung gehört dabei die Vereinbarung eines europäischen Wiederaufbaufonds, wie ihn Angela Merkel und der Emanuel Macron vorantreiben. Als Exportnation geht es uns nur dann gut, wenn es auch unseren Freunden gut geht. Deshalb gibt es in Deutschland eine stabile politische Mehrheit für einen Wiederaufbaufonds. Wir wenden uns gegen jene, die sich unter dem Deckmantel der Sparsamkeit aus ihrer Verantwortung verabschieden wollen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau wird dann gelingen, wenn starke Schultern auch bereit sind, mehr zu leisten.

Die Krise hat auch Reformbedarf offenbart. Die einseitige, häufig unabgestimmte Schließung von Binnengrenzen wird als ein trauriges Symbol der Corona-Pandemie in die Geschichtsbücher Einzug finden. Mein Eindruck war auch, dass manche Politiker gerade auf nur darauf gewartet haben, unliebsame Entwicklungen der Vergemeinschaftung rückgängig zu machen. Für uns im Saarland steht fest: So etwas darf sich nie wiederholen. Es braucht ein eng abgestimmtes Katastrophenschutzkonzept in der Grenzregion.

Es braucht aber auch ein Umdenken der Mitgliedsstaaten: Zu lange wurde in der Krise der Eindruck vermittelt, jeder sei auf sich selbst gestellt. Solidarität zeigt ihren Wert aber in der Krise. Die EU muss jetzt Vorsorge treffen: Dort, wo die Austeritätspolitik der vergangenen Jahre die öffentliche Daseinsvorsorge kaputtgespart hat, müssen Fehler zurückgenommen werden. Wenn Gesundheitssysteme auf Kante genäht sind, reichen ihre Kapazitäten genau dann nicht aus, wenn sie besonders gebraucht werden. Es braucht aber auch die Schaffung europäischer Produktionsstätten für medizinisches Material und Pharmaprodukte. Hier darf es keine Abhängigkeit von anderen Kontinenten geben.

Aber auch die Klimakrise darf nicht in den Hintergrund rücken. Für uns Saarländer ist dabei wichtig, dass Umweltschutzmaßnahmen nicht mit der Deindustrialisierung unseres Landes und dem Verlust von Millionen Arbeitsplätzen einhergeht: Die Transformation der Industrie kann nur dann gelingen, wenn die EU durch massive Investitionen einen Umbau der Industrie hin zur CO2-ärmeren Produktion unterstützt. Niemand nützt es etwas, wenn künftig Stahl unter schlechteren Umwelt- und Arbeitsbedingungen außerhalb Europas produziert wird. Hier erwarte ich konkrete Vorschläge, wie Umwelt, Arbeit und Innovation zusammengebracht werden können. Die Bundesregierung hat mit ihrer Wasserstoffstrategie und den zusätzlichen Mitteln im Konjunkturpaket erste Vorschläge gemacht. Jetzt gilt es, dass aus Bindestrichen in Strategiepapieren auch echte Taten folgen. Hier sind nicht nur der Bundeswirtschaftsminister Altmaier, sondern auch die Kommissionspräsidentin von der Leyen in der Pflicht.

Pandemien, Klima, Wirtschaftskrisen – die Herausforderungen des 21. Jahrhundert sind globale Herausforderungen. Alle 27 Mitgliedsstaaten sind für sich zu klein, um diesen entgegentreten zu können. Nur wenn wir mit einer Stimme sprechen, werden wir von Anderen gehört werden. Dafür kämpfen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.

Markus Töns, MdB, stv. Vorsitzender des Europaausschusses und ehemaliger 1. stv. Vorsitzender der SPE-Fraktion

Damit das gelingen kann brauchen wir einen ordentlich finanzierten Haushalt mit den richtigen Instrumenten. Die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen sind deswegen von großer Bedeutung. Es geht nicht nur um die Höhe des Haushalts, sondern auch um die richtige Prioritätensetzung. Für uns im Ruhrgebiet war es wichtig, dass alle Regionen in Europa weiterhin förderfähig bleiben. Dass bedeutet aber auch, dass die Struktur- und Kohäsionsfonds ausreichend ausgestattet sein müssen. Zudem brauchen wir den Just-Transition-Funds. Der sozial-ökologische Umbau der Wirtschaft kann nur gelingen, wenn die Regionen durch diesen Wandel nicht sozial und wirtschaftlich abgehängt werden.

Auch in meiner Heimat Gelsenkirchen stehen wir wieder, wie so oft, vor großen Veränderungen. Das Steinkohlekraftwerk soll in den nächsten Jahren umgebaut werden zu einem Gasturbinen-Kraftwerk. Die freiwerdenen Flächen sollen zu einem Real-Labor für die industrielle Nutzung von Wasserstoff umgenutzt werden. Die Möglichkeiten der EU-Förderung spielen bei diesem Prozess eine wichtige Rolle, denn sie ermöglichen erst die ausreichende öffentliche Finanzierung dieses Großprojektes.

Neben diesen sehr konkreten Erwartungen gibt es auch das eher diffuse Gefühl, dass sich die Rolle Deutschlands und Europas in der Welt verändert hat und neu begründet werden muss. Großbritannien verlässt die EU, die USA und China stehen in Handelskonflikten mit uns. Auch auf diese Konflikte müssen wir Europäer/-innen eine Antwort finden. Im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft muss hierfür der Grundstein gelegt.

Deutschland hat zwar die Ratspräsidentschaft inne, aber wir können nicht alle Konflikte alleine bewältigen. Auch die deutsche Ratspräsidentschaft ist auf die Kompromissfähigkeit der EU-Partner angewiesen. Die Einigung auf europäische Anleihen zur Finanzierung des Wiederaufbauprogramms macht Hoffnung, dass die Mitgliedstaaten zu neuer Einigkeit gefunden haben. Mit diesem Einigungswillen sollten jetzt auch die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen schnell abgeschlossen werden, damit die Regionen ohne größeren Zeitverzug auf die neuen Mittel zugreifen können. Nur so besteht die Chance die wirtschaftlichen Folgen der Krise schnell zu überwinden.

Die Interviews sind von der SPE-Fraktion im Europ. Ausschuss der Regionen veröffentlicht worden und werden hier mit ihrer freundlichen Genehmigung veröffentlicht.