Witamy – herzlich willkommen

Wie Deutschland und Polen an der Grenze zusammenwachsen

Susanne Dohrn 19. September 2022
Stettin Hafen
Blick auf den Stettiner Hafen: Einst wurden hier die schnellsten Passagierschiffe der Welt gebaut. Das große braune Schiff im Bild ist das Maritime Bildungszentrum. Es liegt auf einer Oderinsel und soll in diesem Jahr fertiggestellt werden.
Was verbindet Westpommern in Polen, die grenznahen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburg und Stettin? Sie sind Teil einer europäischen Metropolregion. Um ihre Chancen und Probleme kennenzulernen, lud die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) nach Stettin ein.

Die Kultur eines Landes ist wie ein Eisberg. Ihr größter Teil ist unsichtbar. Der Eisberg ist eines der ersten Bilder, mit dem die Teilnehmer einer Studienfahrt der FES nach Stettin begrüßt werden und wird sie die 2,5 Tage begleiten. Organisiert von der Europäischen Akademie der FES Mecklenburg-Vorpommern ging es darum, die Stadt Stettin kennenzulernen, ihre wechselvolle Geschichte und die Bedeutung grenzüberschreitender deutsch-polnischer Zusammenarbeit.

Die Kultur

Szczecin heißt die Stadt ab der Grenze, die seit Polens Beitritt zu EU 2004 keine mehr ist. „Witamy“ ist polnisch für herzlich willkommen. Die fremde Sprache gehört zum sichtbaren Teil des Kultur-Eisbergs, so wie historische Bauwerke. Deren nationale Bedeutung befindet sich für Ausländer allerdings weitgehend unter der Wasserlinie und ist ohne historisches Wissen kaum zu entziffern. Stettin war 700 Jahre lang – bis 1945 – eine deutsche Stadt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs sind zwei Drittel der Häuser zerstört, ist historische Altstadt und das Schloss ausgelöscht. Die wenigen Gebäude, die überlebt haben, zeugen von der wechselvollen Geschichte, die die Stadt und ihre Grenzregion über Jahrhunderte geprägt haben.

Die Geschichte

Die über dem Hafen gelegene Hakenterrasse, benannt nach dem langjährigen Oberbürgermeister (1878–1907) Hermann Haken, entstand zwischen 1900 und 1914. Im Hafen wurden im 19. Jahrhundert die größten und schnellsten Passagierschiffe der Welt gebaut. Stettin war Pionier des Baus von Eisenschiffen, wie Katarzyna Kominowska während eines politisch-historischen Stadtrundgangs erklärt. In Stettin gründete Karl Wedel 1851 eine Schokoladenmanufaktur, deren Produkte bis heute zu den köstlichsten in Europa gehören. In der Stadt wurde am 2. Mai 1729 Katharina die Große als Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst geboren. Ihr Geburtshaus, das barocke Palac Pod Globusem, das ehemalige Grumbkow-Palais, hat wie durch ein Wunder überlebt und wird heute von der Kunstakademie genutzt.

Werte und Rituale

Die Konditorei Wedel: Sie befindet sich im barocken Stadttor, einst Anklamer Tor, dann Königstor und heute Brama Królewska

Charakteristisch für einen Eisberg ist, dass sein größter Teil unsichtbar ist. Ähnlich ist es mit den Werten eines Landes. Weshalb zum Programm der FES auch ein Crashkurs in polnischer Lebensart gehörte. Nur soviel: Genutzt wird in Polen fast immer der Vorname, dem ein Herr (pan) oder Frau (pani) vorangesetzt wird, erklärt Dr. Erik Malchow, der als Dozent für Kultur und Kommunikation in Polen lebt. Sprichwörtlich ist die Gastfreundschaft, zu der auch gehört, dass man selbstverständlich etwas zu essen und zu trinken angeboten bekommt, auch wenn man mehrfach höflich abgelehnt hat. Bei Einladungen in Polen komme man besser nicht pünktlich auf die Minute, sondern eine Viertelstunde später, so Malchow, müsse jedoch damit rechnen, dass polnische Gäste – ebenfalls aus Höflichkeit – bei deutschen Gastgebern überpünktlich seien.

Der politische Eisberg

Stettin ist eine grenzüberschreitende europäische Metropolregion, bestehend aus der polnischem Wojewodschaft Westpommern (in etwa die Entsprechung eines Bundeslandes) und den grenznahen Regionen in Vorpommern/Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg, mit Stettin als Kernstadt und Knotenpunkt. Metropolregionen gelten in Europa als Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung. Sie sollen dazu beitragen, den europäischen Integrationsprozess zu beschleunigen. Das ist nicht ganz einfach, zum einen, weil politische Systeme aufeinandertreffen: das föderale in Deutschland und das zentralstaatliche in Polen.

Hinzu kommt, dass auf einer Seite eine Regierung das Sagen hat, die stark nationalistische Töne anschlägt. Sie ernennt auch den obersten Verwaltungschef einer Wojewodschaft, den Wojewode. Er ist für die Umsetzung der Regierungspolitik auch im Grenzgebiet zuständig. Das Fischsterben in der Oder, das wird auf dieser Reise klar, trifft den Tourismus auf der polnischen Seite ebenso hart wie auf der deutschen. Auch viele Polen haben in Übernachtungsmöglichkeiten und Freizeitaktivitäten am und auf dem Wasser investiert und bangen nun um ihre Zukunft.

Die Pioniere

Menschen wählen mit den Füßen. Sie gehen dorthin, wo es für sie attraktiv ist. „Sie sind die Pioniere der europäischen Integration“, sagt Julita Milosz-Augustowska. Die Germanistin und Politikwissenschaftlerin arbeitet für das Regionale Raumplanungsbüro der Wojewodschaft Westpommern in Stettin. Sie koordiniert ein deutsch-polnisches Monitoring-Projekt, das die wichtigsten statistischen Informationen für die Entwicklung der Metropolregion Szczecin sammelt und analysiert.

„Polnische Familien, die sich eine Wohnung im Stadtzentrum von Stettin nicht leisten konnten, sind auf die andere Seite nach Deutschland gezogen und haben dort ein Haus gebaut oder gekauft. Dort haben sie eigentlich alles: eine gute Anbindung an Stettin, eine schöne Landschaft, eine hohe Freizeitqualität“, sagt sie. „Sie haben den Traum von Europa ernst genommen.“ Auf deutscher Seite sichern sie das Überleben von Dörfern, Kindergärten, Schulen. Aber wie viele Familien sind es? Wie viele Menschen pendeln von der deutschen auf die polnische Seite und umgekehrt? Dazu werden gerade Zahlen erhoben. „Solche Zahlen sind wichtig“, sagt Julita Milosz-Augustowska. Als Polen zu Beginn der Corona-Pandemie die Grenzen schloss, habe die Region keine konkreten Zahlen zur Verfügung gehabt, wie viele Menschen von der Grenzschließung betroffen waren. Sie konnte also nicht fundiert gegenüber der Regierung in Warschau argumentieren, welche Auswirkungen die Grenzschließung haben würde. Das könnte in Zukunft anders werden. Die Ergebnisse sollen im Herbst vorliegen.

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