Trauerfeier

Dieter Reiter: „Voller Leidenschaft und Überzeugungskraft“

Dieter Reiter03. August 2020
Hans-Jochen Vogel, Alt Oberbürgermeister in München und ehemaliger Bau- und Justizminister: „Es ist seine einmalige Haltung als Mensch und als Politiker, die von ihm bleibt“, sagte Oberbürgermeister Dieter Reiter in seiner Trauerrede.
Anlässlich der Trauerfeier für Alt-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel in München erinnert Oberbürgermeister Reiter an die Verdienste Vogels – gerade auch als Kommunalpolitiker. Wir dokumentieren Auszüge der Rede im Wortlaut.

„Seit vergangenen Freitag, seit dem Gottesdienst und der Beerdigung von Hans-Jochen Vogel, habe ich oft an die letzten Begegnungen mit ihm gedacht. Aber auch an die ersten Zusammentreffen mit ihm. Ich erinnere mich sehr gut an unser allererstes persönliches Gespräch, es war im Jahr 2008, die Partei und die SPD-Fraktion im Rathaus hatten vor, mich zum Referenten für Arbeit und Wirtschaft zu wählen. Alle waren einverstanden – aber richtig sicher konnte ich mir noch nicht sein. Denn es gab noch eine Hürde: die persönliche Vorstellung beim ‚guten Gewissen der SPD‘ − bei Hans-Jochen Vogel. Ich fuhr also voller Respekt, ja fast demütig − ins Augustinum, wo mich Frau Vogel freundlich empfing und − es gab Kekse.

Hans-Jochen Vogel nahm sich viel Zeit, er fragte wie lang und wieso ich in der SPD bin, was mir an meiner neuen Aufgabe wichtig wäre und stellte viele allgemeine politische Fragen. Um es kurz zu machen: Ich habe bestanden. Diese Art der Begegnung hatte ich ein weiteres Mal dann im Jahr 2012, als erkennbar wurde, dass ich vielleicht für die SPD zum Oberbürgermeister kandidieren darf. Dieses Mal – wieder im Augustinum – wieder mit Keksen – war das Gespräch schon sehr viel vertrauter und direkter. Er erzählte mir aus seiner Zeit als Münchner OB, von den damaligen Herausforderungen, die sich durchaus mit denen der aktuellen Zeit vergleichen ließen, und gab mir Tipps für einen etwaigen Wahlkampf. Und − er versicherte mir, dass er mich unterstützen würde, was mich wirklich stolz machte.

Buch „mehr Gerechtigkeit“: ein Vermächtnis

Dies waren die ersten längeren persönlichen Gespräche zwischen uns. Seit meiner Wahl 2014 hatten wir regelmäßig Gelegenheit gefunden, miteinander zu sprechen – und es war jedes Mal beeindruckend für mich. Auch noch als amtierender Oberbürgermeister hatte ich bei unseren Gesprächen immer den Eindruck, von Hans-Jochen noch viel lernen zu können. Das letzte Mal habe ich ihn Ende November im Café Luitpold in der Brienner Straße getroffen, nicht weit vom Münchner Rathaus. Es war bei einer gemeinsamen öffentlichen Veranstaltung.Trotz seiner angegriffenen Gesundheit war er dabei wie immer: Voller Leidenschaft und Überzeugungskraft. Es war eindrucksvoll, wie er sein, wie wir jetzt wissen, letztes Buch vorstellte. ‚Mehr Gerechtigkeit!‘ heißt es, und das ist in jeder Hinsicht ein Vermächtnis.

Zunächst bezieht sich der Titel natürlich auf das Thema des Buches, die Forderung nach einem sozialen Bodenrecht. Diesen Kampf hat er am Ende seines Lebens noch einmal mit bekannter Vehemenz aufgenommen. Und ich erinnere mich gut, wie er bei einem unserer Treffen mit renommierten Verfassungsrechtsexperten mit der Faust auf den Tisch geschlagen hat. Vor Zorn, dass es bei diesem Thema nicht weiterging, aber auch mit aller Kraft, weil ihm dieses Anliegen so fundamental wichtig war. Ich schätze mich glücklich, dass ich dabei an seiner Seite stehen durfte, als sein vierter Nachfolger im Amt des Münchner Oberbürgermeisters, das er selbst vor einem halben Jahrhundert auf so einzigartige Weise ausgefüllt hat. Für unsere neuerliche Initiative für ein soziales Bodenrecht, die wir vor zwei Jahren gestartet haben, war Hans-Jochen Vogel die zentrale Figur. Deshalb haben wir uns auch bei ihm im Augustinum mit Mitgliedern der Baulandkommission des Bundes getroffen.

Wie berechtigt unsere Forderungen sind, zeigt etwa die Entwicklung der Baulandpreise in München. Sie sind seit 1950 um skandalöse 39.000 Prozent gestiegen. Hans-Jochen Vogel ist nicht müde geworden, das anzuprangern. Er selbst hat vor 50 Jahren als Oberbürgermeister einen großen Anlauf zur Behebung dieses Grundübels unternommen. 1972 forderte der Stadtrat auf seine Initiative eine Neuordnung des Bodenrechts. Anschließend konnte er diese Reform als Bundesbauminister sogar selbst betreiben. Doch es gelang der Opposition, den wesentlichen Bestandteil einer sogenannten Planungsgewinnabgabe über den Bundesrat zu kippen. Als Nachfolger im Amt des Oberbürgermeisters sehe ich gerade dieses Thema, bezahlbares Wohnen zu ermöglichen, als sein Vermächtnis an und seinen Auftrag, an mich, weiter für dieses Ziel zu kämpfen. ‚Mehr Gerechtigkeit!‘ könnte aber auch über dem ganzen politischen Leben von Hans-Jochen Vogel stehen. Ob in München oder in Bonn, nie hat er vergessen, für die Menschen Politik zu machen, die kein großes Ein- kommen, keine große Lobby hinter sich haben. Dafür steht exemplarisch auch das Thema Bodenrecht, das er von der Isar an den Rhein mitnahm in seine zweite, in seine bundespolitische Laufbahn.

München profitiert bis heute

Denn er hat doppelt Geschichte geschrieben: als Münchner Oberbürgermeister bis 1972 und dann in einem halben Dutzend wichtigster bundespolitischer Ämter. Für die Münchner Bevölkerung blieb er immer der verehrte Altoberbürgermeister, der die dynamisch wachsende Stadt so klug nach vorne brachte, dass sie bis heute davon profitiert. Insgesamt 14 Jahre lang stand er im Dienst der bayerischen Landeshauptstadt, im Dienst der Münchnerinnen und Münchner. Knapp zwei Jahre als Rechtsreferent und vom 1. Mai 1960 bis 30. Juni 1972 genau 4.444 Tage lang als Oberbürgermeister. Als er in dieses Amt gewählt wurde, war er mit 34 Jahren der jüngste Oberbürgermeister einer europäischen Millionenstadt. Nach dem legendären Thomas Wimmer, der einen bemerkenswerten Instinkt hatte für das, was München nach dem Krieg brauchte, stand die Entwicklung zur modernen Großstadt an.

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Vor vier Jahren nannte er bei der Feier zu seinem 90. Geburtstag im Alten Rathaus als die wichtigsten Meilensteine seiner Amtszeit neben der Entscheidung des IOC für die Olympischen Spiele in München: die Eröffnung des U-Bahn-Betriebes im Oktober 1971, die Eröffnung des S-Bahn-Betriebes im Mai 1972, die Einweihung der Fußgängerzone am letzten Tag seiner Amtszeit, dem 30. Juni 1972, und noch am Anfang seiner Amtszeit als Voraussetzung aller dieser Errungenschaften die Verabschiedung des Stadtentwicklungsplans am 10. Juli 1963.

Dieses planvolle Vorgehen war auch notwendig, denn München wuchs in seiner Amtszeit um sage und schreibe 300.000 Einwohner. In dieser Zeit sind rund 175.000 Wohnungen neu entstanden, davon 57.000 öffentlich geförderte Sozialwohnungen. Außerdem viele Schulen, Krankenhausbetten, Straßen und Erholungsflächen. Aber solche Zahlen können diese Leistungen nur unvollkommen widerspiegeln. Hans-Jochen Vogel selbst schrieb zum Abschied aus dem Amt: ‚Lebensstandard lässt sich messen, Lebensqualität nicht.‘ Und weiter: „Bei aller Skepsis ist es doch wahr, dass Hunderttausende im Jahr 1972 besser leben als zu Beginn der 60er Jahre. Weil sie eine Wohnung bekommen haben beispielsweise, weil sie mit der U-Bahn oder S-Bahn rascher, angenehmer und sicherer zur Arbeit und abends wieder nach Hause fahren können, weil ihnen der Fußgängerbereich eine Ahnung von der Schönheit ihrer Stadt vermittelt oder weil vor ihrem Fenster ein neuer Baum gepflanzt worden ist ...“

Anwalt der Bürgerinnen und Bürger

Sätze, die wir uns alle auch heute noch vor jeder politischen Entscheidung ins Gedächtnis rufen sollten. Hans-Jochen Vogel jedenfalls hatte sehr konkret die Interessen der Bevölkerung vor Augen. Er war ein visionärer und unglaublich tatkräftiger Anwalt der Bürgerinnen und Bürger, die ihn bei seiner Wiederwahl 1966 mit sagenhaften 78 Prozent im Amt bestätigten. Apropos Wiederwahl: Am Tag nach der OB Stichwahl im März diesen Jahres rief mich Hans-Jochen Vogel an. Er gratulierte mir zu dem wie er sagte − herausragenden − Ergebnis. Als ich relativierend einwendete, dass er doch 1966 ein noch besseres Ergebnis erzielt habe, sagte er in seiner typischen Art: ‚Naja, mein Lieber, aber du hast mehr Stimmen erhalten als ich damals, weil München ja jetzt deutlich größer ist und mehr Menschen gewählt haben als damals‘. Hans-Jochen Vogel eben...

Sein Ausscheiden als OB im Jahr 1972 begründete er unter anderem auch damit, dass er seine Kräfte noch einmal an einer neuen Herausforderung erproben wollte – eine bemerkenswerte Haltung für jemanden, der schon damals so außerordentlich Vieles und Bedeutendes erreicht hatte. Aber sie kennzeichnete sein ganz und gar außergewöhnliches Format. Als eine der wenigen großen Ausnahmeerscheinungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte hat er dann nicht nur eine, sondern alle Herausforderungen angenommen, die das politische Leben außerhalb des Münchner Rathauses bietet.

Er war Bauminister unter Willy Brandt und Justizminister in der Regierung von Helmut Schmidt, er war Kanzlerkandidat, führte in schwierigen Oppositionszeiten die SPD-Bundestagsfraktion und vier Jahre lang als Parteivorsitzender in der Nachfolge von Willy Brandt die Sozialdemokratie. Kurzzeitig stand er auch an der Spitze der heutigen Hauptstadt Berlin und ist damit der einzige deutsche Politiker, der Bürgermeister zweier deutscher Millionenstädte war. Nach seinen Bonner und Berliner Jahren kehrte er wieder in sein München zurück. Hier konnte er noch manches bewirken und auch schöne Ereignisse feiern. Wie zum Beispiel im Jahr 2010 – da war es genau ein halbes Jahrhundert her, dass er eines der schönsten Ämter seines Landes, das des Münchner Oberbürgermeisters, angetreten hatte.

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Dieses überragende Pflichtgefühl hat ihn bis ganz zuletzt begleitet. Es ist seine einmalige Haltung als Mensch und als Politiker, die von ihm bleibt. Zusammen mit seinen einzigartigen Leistungen für seine Partei, sein Land und seine Stadt München, die er geprägt hat wie kaum ein anderer. Deshalb werden wir auch weiterhin in München und darüber hinaus auf Schritt und Tritt seine Spuren finden.

Und uns dabei dankbar an ihn als einen großen Münchner und einen großen Menschen erinnern. Hans-Jochen, wir werden Dich nie vergessen.“

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