Interview mit Carsten Sieling

„Die Digitalisierung spielt eine zentrale Rolle“

Karin Billanitsch13. September 2017
Bürgermeister Dr. Carsten Sieling, Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen: „Die Arbeit in der öffentlichen Verwaltung von Papier auf die elektronische Akte umzustellen, ist eine der umfassendsten Umstrukturierungen der vergangenen Jahre!“
Der Bremer Senat ist auf dem Weg zur „Verwaltung 4.0“. Bürgermeister und Präsident des Senats Carsten Sieling geht es um einen Service für Bürger und Unternehmen, der die Chancen der technischen Entwicklung nutzt.

Zu den Zielen der Bremer IT-Strategie gehört die Einführung der elektronischen Akte und eines Dokumenten-Management-Systems.  Wie ist hier der Stand der Dinge?

Seit Beschluss des Senats im Dezember 2012 haben wir vieles erreicht: Die Justizbehörde und das Wissenschaftsressort arbeiten beispielsweise ausschließlich mit der elektronischen Akte und unserem Dokumenten-Management-System (DMS). Auch in der Senatskanzlei und vielen anderen Dienststellen gehört das DMS zum Arbeitsalltag. Gleichzeitig gibt es noch vieles zu tun. Wichtig ist: Es geht nicht allein um eine „Elektronisierung“ der Akten, sondern es müssen zugleich Arbeitsabläufe und Kommunikationswege überprüft und angepasst werden. Digitalisierung im guten Sinn geht mit einer Optimierung der Arbeitsprozesse einher - das ist eine  anspruchsvolle Aufgabe.  

In unserem Modernisierungsprogramm „Zukunftsorientierte Verwaltung“ spielt Digitalisierung eine zentrale Rolle. Mit der Digitalisierungsstrategie „Verwaltung 4.0“  hat der Bremer Senat – als nächsten Schritt nach der Einführung der elektronischen Akte – die vollständige Digitalisierung der verwaltungsinternen Bearbeitungs- und Abstimmprozesse beschlossen. Die Auswirkungen sollen jedoch nicht nur verwaltungsintern spürbar werden. Mir geht es um einen Bürger- und Unternehmensservice, der die Chance der technologischen Entwicklung nutzt. Ich denke an den elektronischen Datenaustausch zwischen Behörden, Bürgerinnen und Bürgern und Unternehmen, an Transparenz, Sicherheit und eine zukunftsfähige IT-Organisation für Bremen.  

Welche besonderen Probleme haben sich hier gestellt, die gelöst werden mussten?

Die größte Herausforderung ist die vollständige medienbruchfreie Umstellung des Arbeitsprozesses von der Papier- auf die elektronische Akte. Derzeit gibt es noch wenig standardisierte Arbeitsabläufe. Denken Sie dabei an die breite Anwendungspalette der öffentlichen Verwaltung:  von der Fortbildungsplanung über das Beteiligungsmanagement, der Bearbeitung von Ordnungswidrigkeitsverfahren bis zu ressortübergreifenden Projekten müssen Art und Umfang der Zusammenarbeit von den Nutzerinnen und Nutzern neu gedacht und ausgestaltet werden. Im Rahmen unserer Gesamtstrategie einer stufenweisen Umstellung sind natürlich noch nicht alle Fragestellungen komplett und abschließend geregelt, das ist ein laufender Prozess – manche Lösungen werden erst dann geschaffen, wenn die konkrete Anforderung auftaucht. 

Haben sich dadurch die erwarteten und benötigten Kosteneinsparungen ergeben? 

Vorab: Bei der flächendeckenden Einführung des elektronischen Dokumentenmanagementsystems geht es nicht allein um Kosteneinsparungen, sondern um die Sicherstellung der ordnungsgemäßen Verwaltungsarbeit im Zeitalter der Digitalisierung. Die erwarteten Zeit- und Kosteneinsparungen sind zudem erst dann vollständig realisierbar, wenn die flächendeckende Nutzung erreicht wird. Wie hoch die Einsparungen nach der Umstellung auf die elektronische Akte konkret ausfallen, werden wir evaluieren. 

In einer Wirtschaftlichkeitsbetrachtung gehen wir grundsätzlich davon aus, dass es eine tägliche Zeitersparnis und Arbeitserleichterung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben wird. Elektronische Aktenführung heißt auch: keine Laufwege mehr zu den Akten, keine Aktenwägen, keine Raumkapazitäten zur Aufbewahrung. Allein im Migrationsamt gibt es beispielsweise 1,2 km Aktenbestände bei ca. 100.000 laufenden Akten! Die Aufbewahrung braucht Raum, der Transport Zeit – beides fällt mit der e-Akte weg.

Im IT-Bereich lassen sich Einsparungen oft durch Kooperationen erreichen.  Welche geeigneten Kooperationen hat das Land vereinbart, um Kosten zu senken? Sind weitere gemeinsame IT-Projekte in Planung?

Das Thema der Verwaltungskooperationen liegt mir persönlich sehr am Herzen! Gemeinsam mit fünf weiteren Bundesländern ist die Freie Hansestadt Bremen Trägerland des IT-Dienstleisters Dataport. Neben den IT-Dienstleistungen für die Landesverwaltung Bremens nimmt Dataport diese auch für die Landesverwaltungen von Hamburg und Sachsen-Anhalt, für die Landesverwaltung und einige Kommunalverwaltungen Schleswig-Holsteins und für die Steuerverwaltungen von Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen wahr. Durch diese Zusammenarbeit können Synergiepotenziale erzielt werden. Außerdem werden Qualität und Sicherheit des IT-Betriebs erhöht und wo immer möglich, ersetzen einheitliche Verfahren Insellösungen. Neben dem für immer mehr Anwendungen gemeinsam organisierten Betrieb in den Dataport-Rechenzentren werden außerdem Einsparungen im Bereich des gemeinsamen Einkaufs (z.B. von Hardware und Lizenzen) über Mengenrabatte erzielt.

Bremen kooperiert zudem über den IT-Planungsrat mit Bund und Ländern im wichtigen Bereich der Standardisierung. 

Auch in spezifische Fachgebieten gibt es Kooperationen: beispielhaft nennen möchte ich  die Steuerverwaltung, bei der die Software für das Besteuerungsverfahren vereinheitlicht und weiterentwickelt wird oder die länderübergreifende Zusammenarbeit im Nordverbund im Bereich Geodaten und Vermessungswesen.  

Es geht bei der Digitalisierung nicht nur um Effizienz, sondern auch darum, den Bürgerinnen und Bürgern das Leben zu erleichtern. „Warum gibt es die meisten Formulare nicht online? Warum muss man beim Wohnungswechsel vielerorts zum Bürgeramt laufen?“ hat SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz bei der Vorstellung des Zukunftsplans für Deutschland gefragt.  Wie digital ist Bremen bei der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern aufgestellt?

Die Frage ist berechtigt. In Bremen haben wir  viel erreicht: Vor allem der Informationsbereich ist komplett online. Auf service.bremen.de und den Webseiten der Ressorts sind über 630 Dienstleistungen der Verwaltungen auffindbar, inklusive Ansprechpartner, Öffnungszeiten der zuständigen Behörden und ihre Erreichbarkeit. Dabei nutzt Bremen einerseits bundesweit standardisierte Vorlagen aus dem Föderalen Informationsmanagement (FIM), dem Leistungskatalog Leika sowie dem 115-Verbund. Andererseits stellt Bremen den Datensatz seiner Dienstleistungen ebenfalls als Open Data zum Download zur Verfügung. Anbieter von Apps und andere Webseiten können diese einbinden.

Für Unternehmen und professionelle Klienten der Verwaltung, insbesondere Rechtsanwälte und Notare, gibt es zudem schon eine Reihe von elektronischen Dienstleistungen. Dazu gehören die Umsatzsteuervoranmeldung und die Handelsregistereinträge, die sogar ausschließlich elektronisch erfolgen. 

Was ist hier auf mittlere Sicht bis zum Jahr 2020 geplant, um den Bürgerinnen und Bürgern das Leben zu erleichtern? 

Die Verwaltungsentwicklung in Bremen soll zu einer Vielzahl von Erleichterungen führen. Eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung ist für die Attraktivität unseres Landes wichtig, das ist für uns daher von zentraler Bedeutung.  Mit dem Programm „Zukunftsorientierte Verwaltung“ reagiert der Senat auf die sich verändernden Anforderungen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen an die Arbeit der Verwaltung. Daher gib es ein eigenes Handlungsfeld „Transparenz und Bürgerservice“. Als konkrete Maßnahme möchte ich hier die Einführung eines vereinfachten Verfahrens für die Ausstellung von Geburtsurkunden nennen. Ziel ist eine Online-Schnittstelle zum Personenstandsregister, sodass die Bürgerinnen und Bürger bei Behördengängen künftig keine Geburtsurkunden mehr vorlegen müssen. Kernpunkt ist der Wegfall von Anträgen. Weitere Erleichterungen wollen wir prüfen. In Österreich, Dänemark und England muss beispielsweise niemand mehr Kindergeld beantragen. Für die Bewilligung von Kindergeld reicht die Geburtsmeldung des Krankenhauses, die an das Standesamt geht. Den Rest der erforderlichen Daten besorgt sich die Verwaltung selbst. Sie sind ja vorhanden, nur in unterschiedlichen Behörden.  Die alte Weisheit, dass die Daten laufen, nicht die Bürger, soll auch in Bremen umgesetzt werden! 

Digitalisierungsprozesse und guter Bürgerservice brauchen dafür eine systematische und zielgerichtete Investition. Der Senat nimmt die Verbesserung des Bürgerservices sehr ernst und hat im Juni dieses Jahres beschlossen, für die Bereiche Bürgerservice und Digitale Verwaltung im Rahmen der Haushaltsaufstellung 2018/19 zusätzlich 20 Millionen Euro pro Haushaltsjahr zur Verfügung zu stellen. Damit bringen wird die Verwaltungsentwicklung voran. 

Digitalisierung gibt die Chance, Bürgerinnen und Bürger online zu beteiligen. Erreicht man damit mehr Menschen – oder nur dieselben, die ohnehin aktiv sind?

Natürlich beteiligen sich die Menschen, die sich in der realen Welt engagieren auch öfter online. Aber mit gut geplanten und barrierefreien Beteiligungsprojekten haben wir in Bremen schon Erfolge gehabt und viele Menschen erreicht.  

Die Nutzung der digitalen Angebote durch Bürgerinnen und Bürger steigt immer weiter an.  Bürgerinnen  und Bürger nutzen online Angebote jedoch sehr unterschiedlich. Jüngere Menschen suchen häufig über Suchmaschinen, ältere Menschen gehen direkt auf die Internetseite der jeweiligen Verwaltung. Hier ist es wichtig, allen gerecht zu werden und auf die verschiedenen Bedürfnisse einzugehen.  

Studien zeigen jedoch auch, dass Alter oder Geschlecht nicht so viel Einfluss auf die E-Government-Nutzung haben wie vielleicht vermutet. Vielmehr sind Bildungsgrad und sozialer Hintergrund entscheidende Einflussgrößen. Mir ist es wichtig, durch Digitalisierung keine Menschen abzuhängen. Wir müssen genauso auf diejenigen Bürgerinnen und Bürger eingehen, deren Bedürfnisse nicht in online-Dienstleistungen, sondern in einer persönlichen Beratung liegen. Vielen Menschen ist der persönliche Kontakt sehr wichtig. 

Wie erreicht das Land/die Kommune die Menschen, die mit Internet nicht klar kommen, z.B. Alte oder solche mit einem sehr niedrigen Bildungsniveau?

Neben den elektronischen Dienstleistungen wird nach wie vor der persönliche oder telefonische Kontakt entscheidend sein. Unter der einheitlichen Nummer 115 erreichen alle Bürgerinnen und Bürger das  zentrale „Bürgertelefon Bremen“ (BTB).  Anrufende werden beraten, es werden (Teil-) Dienstleistungen bereits telefonisch erledigt oder die Anrufenden werden an die zuständigen Stellen weitergeleitet. Ich bin stolz darauf, dass wir mit dem Bürgertelefon  den Bürgerinnen und Bürgern einen hochwertigen Service bieten. Unsere Auswertungen zeigen, dass 60% der Anfragen innerhalb von drei  Minuten beantwortet werden können. Für Anliegen, auf welche die Kolleginnen und Kollegen selbst keine Antwort haben, erhalten die Bürger eine Rückmeldung innerhalb von 24 Stunden. Daneben sind unsere Bürgerämter weiterhin Anlaufstelle für persönliche Beratung und komplexe Dienstleistungen und für alle, die die online-Dienstleistungen nicht in Anspruch nehmen wollen oder können. 

Auf den Internetseiten der bremischen Verwaltung bieten bereits viele Dienststellen einen Überblick über die jeweiligen Inhalte in „Leichter Sprache“. 

Bund und Länder haben einen bundesweiten Portalverbund, über den alle Nutzer einfach und sicher auf Online-Anwendungen der öffentlichen Verwaltung zugreifen können, vereinbart. Wie ist Bremen darauf vorbereitet? 

Service-Seite der Stadt Bremen

Bremen beteiligt sich an der Bund-Länder-Kooperationsgruppe Portalverbund. Dort werden u.a. die Ziele des Verbundes, Inhalte des Portals, Funktionalitäten sowie die Schnittstellen zu den Portalen der Länder erarbeitet. Das Landesportal in Bremen http://www.service.bremen.de verfügt über übliche Schnittstellen, die für die Herstellung des Verbundes genutzt werden können. Kern des Portalverbundes werden Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen sein. Die Realisierung erfolgt stufenweise. Der Schwerpunkt liegt zunächst auf der Komponente „Suchen und Finden“. Darüber hinaus soll die Integration der Komponenten Servicekonten, Formulare und E-Payment untersucht werden und Kriterien für die Portalverbundfähigkeit von weiteren Anwendungen festgelegt werden. 

Das bedeutet für Bremen, dass Leistungsbeschreibungen für Dienstleistungen und die Entwicklung der dazugehörenden online-Formulare zentral erstellt werden und diese Aufgaben nicht in allen 16 Ländern und dem Bund erfolgen müssen. Nur die wenigen bremischen Anpassungen müssen vor Ort erfolgen. 

Digitalisierung in der Kommune ist mehr als EGovernment. Bremen betreibt – übrigens als eines der ersten Bundesländer – ein Open Data-Portal. Welche Datensätze werden häufig genutzt? 

Die TOP 4 der nachgefragten Datensätze sind das Straßenverzeichnis der Stadt Bremen, die Karteninhalte von GeoInformation Bremen, die „Vorausschätzung: Natürliche und räumliche Bevölkerungsbewegungen nach Geschlecht 2030 in Bremen“ und der Datensatz zur Bevölkerung nach Migrationsstatus, Geschlecht und Altersgruppen.

Gibt es – aus Ihrer Sicht – besonders nützliche Anwendungen, die entwickelt wurden? 

Ja, die gibt es:  „Kindergarten in deiner Nähe“. Auch den „HS Bremen Guide“ finde ich nützlich, das ist ein Guide für die Hochschule Bremen mit Stunden- und Gebäudeplan sowie den Kontaktdaten der Dozenten. 

Hat Bremen auch selbst Anwendungen entwickelt, um die Daten zu monetarisieren?

Das Statistische Landesamt Bremen bietet als  Online-Auskunft das Straßenverzeichnis der Stadt Bremen an. Es gibt die  EFRE-App zum Entdecken, Erkunden und Dokumentieren des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und den geförderten Projekten im Land Bremen. Das WFB - Erlebnismagazin für Bremen und Bremerhaven bietet als  Magazin-App Ausflugs- und Veranstaltungstipps für Bremen und Bremerhaven. Und der SKB-Schulwegweiser Bremen hilft, die die gewünschte Schule zu finden. Und dabei geht es uns nicht darum, damit Geld zu verdienen. Das überlassen wir der Wirtschaft. Die Bremer Verwaltung entwickelt eigene Apps nur in Ausnahmefällen. 

Welche Zukunftsvisionen haben Sie für ein „smartes Bremen?“

Die öffentliche Verwaltung muss veränderten Anforderungen gerecht werden. In den vergangenen Jahren hat Bremen Einwohnerinnen und Einwohner hinzugewonnen - das freut mich sehr. Dieser Wachstumstrend bietet Chancen, jedoch auch Herausforderungen. Dazu zählen unter anderem die Themenfelder Energieverbrauch und Mobilität. Diese Herausforderungen gehen wir mit einer intelligenten Stadtentwicklung an. Außerdem wird derzeit eine Gesamtstrategie „Wachsende Städte – Wachsendes Land“ zur Unterstützung einer zukunftsfähigen Entwicklung Bremens erarbeitet.  Im Juni dieses Jahres haben wir im Senat beschlossen, eine Kommission „Zukunft Bremen“ einzusetzen. Damit  reagieren wir auf die künftigen Herausforderungen Bremens und legen den Grundstein dafür, die erfolgreiche Entwicklung Bremens fortzuführen. Dabei sind Akteure der Stadtgesellschaft einbezogen. Nachhaltigkeit und Energieeffizienz sind daher auch für Bremen wichtige Themenfelder – auch und insbesondere im Bereich des Verkehrsmanagements. 

Die Vision von der papierlosen Verwaltung gibt es schon lange. Wie halten Sie es persönlich mit dem papierlosen Büro: Drucken Sie alle Ihre Emails noch aus? 

Als Bürgermeister kann ich mich vor Papieren schwer retten. Darum gilt für mich: Gerne so papierlos wie möglich. Und natürlich wird es immer auch Sachen geben, die ich lieber in Papierform habe – Bücher zum Beispiel.