Entwicklung ländlicher Räume

Dorfbewohner sind dem Land weniger wert

Karin Billanitsch06. April 2017
“Dörfer und Kleinstädte sind in einem Wandel“: Bernhard Reuter (SPD), Landrat der Landkreises Göttingen und Vizepräsident des deutschen Landkreistags.
Viele Dörfer und Kleinstädte sind bedroht. Um sie lebensfähig zu halten, muss viel passieren, sagt Landrat Bernhard Reuter, Landkreis Göttingen. Er setzt auf unbürokratische Breitbandförderung sowie ein breit angelegtes Programm „Jung kauft Alt“
Die Dörfer werden immer leerer: Es gibt immer weniger Menschen, Schulen, Gasthöfe und Läden. Sind Dörfer und Kleinstädte in Gefahr?
Man muss differenzieren: Was man generell sagen kann, ist, dass die Dörfer und Kleinstädte in einem Wandel sind. Ob man den Wandel als Gefahr begreift, kann nicht allgemein beantwortet werden, sondern nur konkret. Es gibt Dörfer, die lebensfähig sind und ihre Chancen nutzen, und sehr viele Dörfer, die in ihrer Existenz in der Tat bedroht sind. Der ­Gestaltungsdruck für alle ist gewaltig und es muss eine Menge passieren, um die Dörfer lebenswert zu halten. Da ist die ­eigene Bevölkerung gefragt, aber auch der Staat, der für bessere Rahmenbedingungen für die Dörfer sorgen muss.  

Den Wandel als Chance begreifen – ohne Grundvoraussetzungen in der Infrastruktur geht das nicht. Zum Beispiel flächendeckender Breitbandausbau. Wo stehen wir jetzt?
Der Breitbandausbau in den Dörfern ist absolut wichtig. Es ist Aufgabe von Staat und Kommunen, dafür zu sorgen, dass es in jedem Dorf schnelles Internet gibt. Die gute Nachricht ist, dass Kommunen, Länder und Bund sich in diesem Ziel einig sind. Jetzt geht es darum, die Ausbauziele und Förderinstrumente besser zu koordinieren, als das im Moment der Fall ist. Die Bundesförderung ist viel zu bürokratisch und braucht zu viel Zeit. Hier muss für ­eine Entbürokratisierung gesorgt werden, damit der Breitbandausbau schneller voran­geht. Das Ziel 50 MBit pro Sekunde ist für den Moment in Ordnung, aber langfristig überhaupt nicht ausreichend.

Nennen Sie bitte ein Beispiel für zu viel Bürokratie.
Viele Landkreise sind nach der Änderung der Breitbandstrategie des Bundes in der Situation gewesen, dass ihre Vorarbeiten nicht mehr mit den Fördervoraussetzungen übereinstimmten. In der Folge mussten sie noch einmal von vorn anfangen. In meinem Landkreis, Göttingen, haben wir dadurch ein Jahr Zeit verloren – ohne dass wir etwas dafür konnten. Ich kenne Landkreise, die verzichten inzwischen ganz auf eine Bundesförderung.

Smart City ist ein beliebter Begriff. Böte nicht „Smart Country“ viele Chancen, der Erosion der Infrastruktur zu begegnen? Welche konkreten Dienste kommen Ihnen in den Sinn?
Smart Country ist erst einmal ein schöner Begriff. Und es ist auch etwas dran, beispielsweise bei der Gesundheitsvorsorge und der Idee von mobilen Praxen. Aber es ist auch ein bisschen Zukunftsmusik. Man muss zunächst Probleme anpacken, die jetzt bestehen. Man muss deutlich sagen: Nichts wird funktionieren, wenn nicht das nötige Geld dafür vorhanden ist.
Die negative Entwicklung in den Dörfern ist die Folge einer jahrzehntelangen falschen Lenkung von Finanzströmen. In Niedersachsen beispielsweise gibt es im kommunalen Finanzausgleich für große Städte pro Einwohner 80 Prozent mehr als für einen Einwohner im Dorf. Das führt über die Jahre natürlich dazu, dass auf dem Dorf die Infrastruktur viel schlechter ist als in der Stadt. Der ländliche Raum ist finanziell systematisch trockengelegt worden. Wenn man die Dörfer wieder revitalisieren will, dann muss mehr Geld in den ländlichen Raum fließen.

Niedersachsen hat gerade ein Landesbuslinienprogramm aufgelegt. Ein Schritt in die richtige Richtung?
Ja. Das ist ein kleiner Schritt. Allerdings ist die kommunale Gegenfinanzierung erheblich, und gerade für die Kommunen, die es am nötigsten haben, ist es am schwersten, diese Finanzierung zu leisten.
 
Autor und Wissenschaftler Professor Gerhard Henkel spricht – vereinfacht gesagt – von einer Schwächung des ländlichen Raumes durch zu viel Fernsteuerung von oben. Als ­Beispiel nennt er die Ausweisung von neuen Wohn- und Gewerbeflächen, oder die Leitbildsetzung von oben. Brauchen die Dörfer wieder mehr Autonomie?
Ja und nein. Natürlich muss es abgestimmte Planung geben. Das ist ganz im Sinne der Kommunen, weil ansonsten Effekte einsetzen, die wir auch nicht wollen. Im Prinzip ist es schon richtig: Es fehlt an Gestaltungsmöglichkeiten, die behördlichen Vorgaben sind oftmals zu dicht. Aber, um es noch einmal zu sagen: Das viel größere Problem als fehlende rechtliche Spielräume ist fehlendes Geld.

Durch die Gebietsreformen sind viele eigenständige Gemeinden verschwunden. Ist das nicht mit ein Grund für die Misere des Dorfes?
Das ist mir zu pauschal. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten eine starke Verrechtlichung erlebt, das stimmt. Ich nehme als Beispiel das Vergaberecht, das heute extrem kompliziert ist. Die Verrechtlichung hat zur Folge, dass Kommunen heute professionell geführt sein müssen. Dazu brauchen sie auch eine gewisse Größenordnung. Deswegen halte ich nichts davon, so zu tun, als ob der Weg zurück in die 60er Jahre mit kleinen Gemeinden und ehrenamtlichen Verwaltungen sinnvoll ist. Das kann nicht mehr funktionieren. Wir sollten aber das kommunale Ehrenamt überall, wo es noch funktioniert, stärken. Und ihm mehr finanzielle Möglichkeiten geben.

Woran liegt der Rückgang des ehrenamtlichen Engagements?
Das liegt in hohem Maße auch daran, dass sich Kommunalpolitik in den Zeiten leerer Kassen auf eine Sparpolitik reduziert hat. Es macht ehrenamtlichen Politikern keinen Spaß, ihrer eigenen Bevölkerung ständig erklären zu müssen, dass Einrichtungen geschlossen, Bürgerleistungen zurückgefahren und trotzdem Grund- und Gewerbesteuer angehoben werden müssen.

Wie kann man das punktuell ja vorhandene Engagement fördern?
In manchen Dörfern funktioniert es sehr gut, aber das hängt oft von Zufällen und dem Engagement einzelner Personen ab – mit dem Risiko, dass solche Entwicklungen schnell enden können. Deswegen müssen wir eine systematische Herangehensweise finden. Der Landkreis Göttingen hat das Konzept Dorfmoderation entwickelt. Wir unterstützen, qualifizieren und finanzieren Dorfkümmerer. Sie bemühen sich im Ort darum, Initiativen voranzubringen, die Einwohner zu vernetzen, gute Ideen zu sammeln und aus ihnen Projekte zu entwickeln. Ich wünsche mir, dass es für jedes Dorf einen Dorfkümmerer gibt.

Wie kann mehr Geld fließen, auch in die kleinen Dörfer?
Mein erster Ansatzpunkt richtet sich an die Länder: Ich kann nicht verstehen, weshalb den Ländern ein Einwohner in der Großstadt mehr wert ist, als im Dorf. Ich glaube sogar, dass die Kosten pro Einwohner im Dorf höher sind, wenn man die Anforderungen an schnelles Internet, Mobilität und medizinische Versorgung betrachtet. Der zweite Punkt ist: Die Städte fordern Unterstützung im sozialen Wohnungsbau. Im Gegenzug fordere ich für den ländlichen Raum ein milliardenschweres Bundes-Programm, um auch dort die Wohnraumfragen zu lösen. Das Problem sind Leerstände, weil es nicht mehr attraktiv ist, in Immobilien zu investieren, wenn nicht sicher ist, ob das Haus in 10, 20 Jahren noch verkäuflich ist. Manche Kommunen unterstützen junge Familien, die renovierungsbedürftige Häuser sanieren. Das reicht nicht. Wir brauchen groß angelegte Programme „Jung kauft Alt”. Das wäre ein wichtiger Beitrag, um die Einwohnerentwicklung in den Dörfern zu stabilisieren und für junge Familien ­attraktiv zu halten.

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