Kreisjugendparlament Friesland

Sie werden ernst genommen

19. März 2018
Mitglieder des Kreisjugendrats Friesland werben mit Flyern für einen in einen Informationsabend und eine Gedenkfeier für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus im Landkreis Friesland. „Lina, Käthe, Adolf, Arthur & Helene – Jüdische Jugendliche in Schortens“ heißt die Veranstaltung, die da Ende Januar über die Bühne gegangen ist.
Landkreise suchen nach neuen Wegen für wirksame Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Das Bundesfamilienministerium unterstützt ausgewählte Kreise im Rahmen seiner „Demografiestrategie“ – dazu gehören Friesland und Kyffhäuserkreis

Es ist aufrüttelnd, was da im Schortenser Bürgerhaus auf der Bühne geschieht. Die Familie Weide darf nicht an einem Tisch sitzen, ihr werden zuerst der Tisch, dann die Stühle weggenommen, schließlich müssen die ­Familienmitglieder mit dem Rücken zum Publikum stehen. Weil die Familie nicht nachweisen kann, dass in ihren Adern reines Schortenser Blut fließt, verliert sie ihre Bürgerrechte. Zuletzt führen Ordner sie in den hinteren Teil des Saales, wo Mutter, Vater und Kinder als sogenannte „Unwerte“ ihr Dasein fristen. „Gesetz ist Gesetz und muss befolgt werden“, skandiert dazu Mustafa Fakhro, der den Bürgermeister verkörpert. Den unbeteiligten Anwesenden im Saal ist sichtlich unwohl in ihrer Haut, registriert die ­Autorin einer Lokalzeitung. „Das hat schon ganz gut wiedergegeben, wie es vor 80 Jahren hier zugegangen ist – natürlich war damals der Druck viel größer“, lässt sie einen Besucher in ihrem Bericht zu Wort kommen.

Antidiskriminierungs-Kampagne Friesland: „Together“

Auch für Mustafa Fakhro aus Jever ist es so etwas wie ein Schlüsselerlebnis. In einem Rollenspiel wird hier das Schicksal einer Schortenser Familie nach der Machtergreifung durch die Nazis aufgearbeitet. Das Ganze ist eingebettet in einen Informationsabend und eine Gedenkfeier für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus im Landkreis Friesland. Auf die Beine gestellt haben das die Mitglieder des Jugendparlaments Friesland, dem ­Mustafa Fahkro vorsitzt. „Lina, Käthe, Adolf, Arthur & Helene – Jüdische Jugendliche in Schortens“ heißt die Veranstaltung, die da Ende Januar über die Bühne gegangen ist. Es sind die Namen der fünf Kinder der Familie, an die mit diesem Titel erinnert wird. Gleichzeitig ist es der Auftakt der Antidiskriminierungs-Kampagne Friesland mit Namen „Together“. Beides – Gedenkveranstaltung und Kampagne – haben direkt mit dem demografischen Wandel und der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an politischen Entscheidungsprozessen zu tun. Das ist gerade in ländlichen Räumen mit schrumpfender Bevölkerung keine Selbstverständlichkeit. Hier setzt auch die Demografiestrategie der Bundesregierung mit der Arbeitsgruppe „Jugend gestaltet Zukunft“ an – eine von zehn Arbeitsgruppen.

Initiatorin war im Jahr 2014 die damalige Bundesjugendministerin Manuela Schwesig. Sie hatte erkannt: „Demografiepolitik ohne Jugend geht nicht.“ Und hatte gehandelt. Das Besondere dabei ist: Die Beteiligten diskutieren nicht nur über die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sondern mit ihnen. Ihre Ideen sind in die Empfehlungen der AG zu einer jugendgerechten Demografiepolitik sowie in die Demografiestrategie der Bundesregierung eingeflossen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den ländlichen Räumen.

AG „Jugend gestaltet Zukunft“ des BMFSFJ

Hintergrund aller Überlegungen: Nach Erkenntnissen des BMFSFJ sind vor allem die jungen Menschen von den Auswirkungen der älter werdenden Gesellschaft betroffen. Sie werde sich in allen Bereichen auf das Leben der Jungen auswirken. Bei der Entwicklung von Zukunftsideen wollen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen beteiligt werden. Jedoch würden Politik, Verwaltung und nicht zuletzt die Zivilgesellschaft nicht immer ausreichend darauf reagieren. Jugendlichen werde bei der sogenannten Generationengerechtigkeit nur eine nachgeordnete Rolle eingeräumt. Mit ihrer Strategie scheint die AG „Jugend gestaltet Zukunft“ denn auch bei den jungen Menschen die sprichwörtlichen offenen Türen einzurennen. „Die Jugendlichen fühlen sich ernst genommen“, sagt Rainer Wiebusch, zuständiger Referatsleiter im BMFSFJ.
Hinter dem Konzept steckt eine gehörige Portion wissenschaftlichen Sachverstands. Von ihm haben die vier teilnehmenden Landkreise Friesland in Niedersachsen, Kyffhäuserkreis in Thüringen, Lichtenfels in Bayern sowie Vorpommern-Rügen in Mecklenburg-Vorpommern profitiert. Sie sind von Oktober 2015 bis April 2018 Teil des Forschungsprojekts „Jugend-Demografie-Dialog“ der Lüneburger Leuphana-Universität. Die Leitung hat Professor Dr. Waldemar Stange.

Ideen für die Zukunft

In allen vier Landkreisen hätten „viele Jugendgruppen parallel zu der Arbeit der AG ,Jugend gestaltet Zukunft‘ verwertbare eigene Ideen und Lösungsbeiträge zum demografischen Wandel in ihren Landkreisen“ entwickelt, steht in der jetzt erschienenen Handreichung. Die Ideen der jungen Bewohner sollen dazu beitragen, die Kreise „zukunftssicherer zu machen“ und anderen als Orientierung dienen.

Wie es funktionieren kann, zeigt der Landkreis Friesland. „Dort hat Landrat Sven Ambrosy Jugendbeteiligung zu seinem Projekt, zur Chefsache gemacht“, freut sich Referatsleiter Wiebusch. Im hohen Norden ist im vergangenen Jahr das 25 Mitglieder starke Jugendparlament Friesland installiert worden. Davon wird jeweils die eine Hälfte direkt gewählt, die andere Hälfte sind Delegierte von bereits bestehenden Einrichtungen wie „dem Kreisschülerrat, den Jugendverbänden, dem Kreissportbund sowie Vertreterinnen und Vertreter aus bereits bestehenden strukturellen Jugendbeteiligungsformen in den Gemeinden und Städten des Landkreises“.

Nadine Schulze: Erfahrungen sind durchweg polsitiv

In ihre Art, Politik zu machen, mischen sich weder Verwaltung noch die Landkreis-Politiker ein – wenn es aus der Richtung anfangs durchaus auch die eine oder andere kritische Stimme gegeben habe, erklärt Nadine Schulze aus der Gemeinde Zetel. Die 18-Jährige ist stellvertretende Vorsitzende des Jugendparlaments. Ihre Erfahrungen sind aber durchweg positiv. „Es ist wichtig, über Beteiligungsformen seine Meinung zu sagen und sich nicht hinter Benutzernamen in sozialen Netzwerken zu verstecken“, ergänzt Nadine Schulze.

Allein aus diesem Grund wirbt sie an diesem Dienstagabend in der Runde des Jugendparlaments ihrer Gemeinde für das Engagement. „Ihr könnt euch als Privatperson jederzeit einbringen“, sagt Nadine Schulze. Darauf legt sie Wert, denn das Jugendparlament hat sich bereits einige Ausschüsse gegeben, die mit den entsprechenden Delegierten besetzt sind. Die Ausschüsse heißen Schule, Bildung und Sport, Kinder- und Jugendrechte, Kultur und Soziales, Regionalentwicklung und Umwelt sowie Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus sind die Mitglieder des Jugendparlaments mit beratender Stimme in den regulären Kreisausschüssen Arbeit und Soziales, Bauen, Feuerschutz und Mobilität, Schule, Sport und Kultur, Umwelt, Abfall und Landwirtschaft, Wirtschaft, Tourismus, Kreisentwicklung und Finanzen sowie Jugendhilfe vertreten.

Mustafa Fahkro: „Vom ersten Tag an wurden wir ernst genommen“

Aus der Sicht der Jungpolitiker hat diese Konstruktion viele Pluspunkte, unter anderem in Sachen Verhältnis zu Politik und Verwaltung. Der Vorsitzende ­Mustafa Fahkro beschreibt das Verhältnis als sehr gut. Er sagt: „Vom ersten Tag an bis heute wurden wir immer von Politik und Verwaltung unterstützt und ernst genommen. Ich glaube auch, dass wir einen guten Beitrag leisten können, wenn in Abstimmungen des Kreises, sich Jugendliche auch berücksichtigt fühlen.“ Gleichwohl gibt es noch viele dicke Bretter zu bohren. „Insgesamt denke ich liegt noch ein weiter Weg vor uns, bis wir als generell anerkanntes politisches Gremium wahrgenommen werden. Es liegt daher an uns, den Menschen – insbesondere den Jugendlichen, zu zeigen, dass wir unseren Aufgaben mit dem nötigen Pflichtbewusstsein entgegentreten, nur so werden wir auch in Zukunft als öffentlich anerkanntes Gremium fungieren können“, findet Jannes Wiesner, Vorsitzender des Ausschusses der „Together“-Kampagne. Die Jugendlichen in Friesland sind ein ganzes Stück vorangekommen auf dem Weg zu wirksamer Jugendbeteiligung.

Im Kyffhäuserkreis und in Lichtenfels tut sich etwas

Auch im Kyffhäuserkreis tut sich etwas: „Wir sind beim Aufbau eines Jugendparlaments“, sagt Elke Schnabel, Sachgebietsleiterin für Prävention, Kitas und Planung der Kreisverwaltung in Sondershausen. Derzeit würden 16 Jugendliche von 14 bis 18 Jahren zu Jugendmoderatoren qualifiziert. Durch die Institutionen ­seien die jungen Leute auch schon gereist. Schnabel und der politische Nachwuchs sind fest entschlossen, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das Problem, so die Sachgebietsleiterin, sei die Größe des Landkreises: „In den Städten ist es unkomplizierter.“

Insgesamt ist die Palette möglicher Beteiligungsformate vielfältig, wie auch ein Blick in die Demografie-Modellandkreise Vorpommern-Rügen und Lichtenfels belegt. An der Ostseeküste beschäftigten sich rund 120 Jugendliche unter der Leitung von Stange mit dem demografischen Wandel und erarbeiteten eine Top-Ten-Themenliste. Die Ergebnisse stellten sie anschließend im Jugendhilfe-Ausschuss vor. Allerdings hätten sich dessen Mitglieder bislang noch nicht entschieden, wie es mit dem Prozess weitergehen soll, erläutert Landkreis-Sprecher Olaf Manzke. Zumindest ist laut „Jugend-Demografie-Dialog“-Handreichung „das enge Verknüpfen mit schon vorhandenen Unterstützungsstrukturen“ angedacht – etwa „durch das ,Andocken‘ an das gut ausgebaute System der Schulsozialarbeit“.
Im Landkreis Lichtenfels sind die Ergebnisse der Dialoge und Workshops überdies durch die direkte Einbindung in die regionale Bildungs- und die Jugendhilfeplanung eingeflossen.