Inflation und steigende Nebenkosten

Expertin: „Die Lage für wohnungslose Menschen spitzt sich zu“

Carl-Friedrich Höck29. November 2022
Ein Obdachloser in Berlin transportiert seine Habseligkeiten.
Treiben die hohen Energiepreise mehr Menschen in die Obdachlosigkeit? Nein, sagen Kommunen. Doch die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe warnt: Es könne zu einer Welle von Kündigungen und Räumungsklagen kommen.

Die Kosten fürs Heizen und für Strom schießen in die Höhe. Mehl, Butter oder Käse werden ebenfalls teurer, die Preise für Nahrungsmittel sind gegenüber dem Vorjahr um mehr als 19 Prozent gestiegen. Damit nehmen auch die Sorgen zu. Viele Menschen befürchten, sich ihre Wohnung bald nicht mehr leisten zu können.

Treibt die aktuelle Krise wirklich mehr Menschen in die Obdachlosigkeit? Verlässliche Zahlen dazu gibt es bisher noch nicht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W) veröffentlicht zwar in regelmäßigen Abständen Schätzungen – zuletzt im Dezember 2021, also vor dem Ukraine-Krieg. Bisher liegen aber noch zu wenige Daten vor, um die Schätzung zu aktualisieren.

Mehr Beratungsbedarf

Geschäftsführerin Werena Rosenke berichtet gleichwohl von einem deutlich größeren Zulauf in den Beratungsstellen der Wohnungslosenhilfe. Oft seien die Menschen nicht darüber informiert, welche Möglichkeiten und Rechte sie haben, wenn sie sich die hohen Nebenkosten nicht mehr leisten können. „Wir befürchten schon, dass es zu einer Zunahme von gefährdeten Wohnverhältnissen kommt“, ergänzt Rosenke. Damit meint sie Mietschulden, die später zu Kündigungen oder Räumungsklagen führen können. „Man wird ja nicht von heute auf morgen wohnungslos“, merkt sie an. Gleichwohl sieht sie die Gefahr, „dass da in den kommenden Monaten eine Welle losgetreten wird“.

An die Kommunen appelliert sie deshalb, ihre Anstrengungen zu verstärken, damit Betroffene ihre Wohnung gar nicht erst verlieren. Sie könnten zum Beispiel Mietschulden übernehmen, um den Erhalt der Wohnung zu sichern. Rechtlich sei das möglich. „In dieser Situation darf man Menschen nicht wohnungslos werden lassen, weil sie sonst vorläufig aus ihrer Lage nicht mehr herauskommen“, betont die Geschäftsführerin der BAG-W.

Rosenke kritisiert, dass ALG-II-Beziehende in der Regel an eine Mietobergrenze gebunden seien. Das sei zwar ein Richtwert, „aber viele Kommunen machen das ziemlich rigide“. Deshalb finde man in vielen Regionen keine Wohnung mehr, die das Amt als angemessen akzeptiere. Rosenke berichtet von Betroffenen, die deshalb einen Teil der Miete aus ihrem ohnehin kleinen Regelsatz bezahlen. Wenn dann noch zusätzliche Kosten dazukämen, etwa für Strom, sei die Gefahr groß, dass sich eine Verschuldungsspirale in Gang setze.

Kommunen rechnen nicht mit mehr Wohnungslosen

In den Kommunen gibt man sich zuversichtlicher. „Wir rechnen nicht damit, dass es aufgrund der Preisentwicklungen zu einer erhöhten Zahl von Wohnungslosen kommen wird“, teilt die Landeshauptstadt Stuttgart mit. Zwar seien die gestiegenen Energiekosten für viele Haushalte eine Belastung. Bei hilfebedürftigen Haushalten würden die Heizkosten aber inklusive Nachzahlungen vom Sozialamt beziehungsweise Jobcenter übernommen, und das in der tatsächlichen Höhe. Möglich werde das durch eine Corona-Regelung, die vereinfachte Verfahren vorsieht. Sie gilt für alle Bewilligungsverfahren, die vor dem 31. Dezember 2022 beginnen. Und auch danach würden die Kosten „bei angemessenem Heizverhalten“ voll übernommen.

Die Stadtverwaltung verweist außerdem auf die Wohngeldreform der Ampel-Koalition im Bund. Die Zahl der Wohngeldberechtigten werde sich ab Januar 2023 verdreifachen und das durchschnittliche monatliche Wohngeld werde sich mehr als verdoppeln. „Sollten dennoch Mietschulden entstehen, hat die Landeshauptstadt Stuttgart im Bereich der Prävention von Wohnungsverlusten ein gut ausgebautes Beratungs- und Unterstützungsangebot“, schreibt die Verwaltung auf DEMO-Anfrage. Für akut obdachlose Menschen halte das Sozialamt ausreichend Unterbringungsplätze vor.

Aus der Kölner Stadtverwaltung heißt es, die Kommune stelle seit Jahrzehnten „einen kontinuierlichen Anstieg der erforderlichen ordnungsbehördlichen Unterbringungen fest“. Rein statistisch sei also zu erwarten, dass die Zahl weiter steige. Ob auch die Energiekrise zu mehr Obdachlosigkeit führen werde, könne noch nicht abgesehen werden, „da es zahlreiche finanzielle Unterstützungsmaßnahmen geben wird.“

„So schlecht wie vor Corona”

In der Praxis erhalten wohnungslose Menschen nicht immer die Hilfe, die ihnen eigentlich zusteht. Die BAG-W berichtet von Kommunen, die Obdachlosen eine Fahrkarte in die Hand drücken, damit sie in die nächste größere Stadt fahren, obwohl sie eigentlich selbst dafür zuständig wären, sie unterzubringen. Was Werena Rosenke zudem frustriert: In den Unterkünften seien die hygienischen Bedingungen oft so schlecht wie vor der Corona-Pandemie. Es gebe viele Betten auf engem Raum. Die Praxis, Unterkünfte auch tagsüber zu öffnen, sei teilweise wieder zurückgefahren worden. „Insgesamt spitzt sich die Lage für die bereits jetzt schon wohnungslosen Menschen zu“, sagt sie.

Was die Situation zusätzlich erschwere: Kommunen müssten Platz schaffen, um diejenigen unterzubringen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Das enge die Spielräume für die Kältehilfe ein. Es dürfe aber keine Konkurrenz der Hilfesuchenden geben, warnt Rosenke.

Hamburg: Alle Schutzsuchenden aus der Ukraine werden untergebracht

Man unternehme große Anstrengungen, um den Schutzsuchenden aus der Ukraine eine Unterkunft anzubieten, teilt die Sozialbehörde der Hansestadt Hamburg mit. Das falle nicht leicht, weil die Standortsuche schwierig, die Flächen begrenzt und die Kapazitäten ausgeschöpft seien. Dennoch gelinge es, allen auch tatsächlich eine Unterkunft anzubieten. „Dass sich durch ankommende Schutzsuchende die Zahl der Obdachlosen erhöht, ist für Hamburg also faktisch auszuschließen“, schreibt die Behörde auf Anfrage.

Steigende Energiekosten allein seien keine Ursache für neu entstehende Obdachlosigkeit, heißt es aus der Hansestadt. Wer schon Transferleistungen beziehe, werde auf diesem Weg auch vor steigenden Energiepreisen geschützt. Und wer bisher kein Geld vom Staat erhalten habe, könne nun möglicherweise ebenfalls Transferleistungen oder Wohngeld beziehen. Außerdem schaffe die Hansestadt einen Härtefallfonds. Er soll Menschen helfen, denen eine Stromsperre droht, weil sie ihre Stromrechnungen nicht bezahlen konnten. „Damit nirgends das Licht ausgeht“, erklärt ein Sprecher.

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