Übernachtungen im Winter

Wo finden Obdachlose Schutz?

Carl-Friedrich Höck16. Oktober 2018
Schlafsack auf einem Bürgersteig in Berlin
Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür. Für Obdachlose kann sie lebensbedrohlich sein, wenn sie keinen warmen Schlafplatz finden. Schutz bieten oft Bahnhöfe. Ein aktuelles Beispiel aus Berlin zeigt: Willkommen sind sie dort nicht.

Wäre das Thema nicht so bitterernst, könnte man über diese kuriose Geschichte herzlich lachen. Im August hat die Deutsche Bahn angekündigt, im Berliner S-Bahnhof Hermannstraße künftig atonale Musik erklingen zu lassen. Mit den Tönen wollte die Bahn die örtliche Trinkerszene vergraulen. Schnell meldete sich der Fahrgastverband Igeb zu Wort und warnte, die neue Beschallung könne auch die Fahrgäste nerven.

Tatsächlich hat die Bahn ihre Pläne mittlerweile geändert. Nach einem Bericht der Berliner Zeitung lag das wohl an einem Konzert, dem der zuständige Bahnhofsmanager beiwohnte. Mit dem Auftritt wollten Liebhaber der Neuen Musik demonstrieren, wie sich ein Bahnhofsaufenthalt künftig anhören könnte. Die schrillen Töne verschreckten den Manager offenbar derart, dass er es nun lieber mit Naturgeräuschen versuchen will.

Man will Trinker fernhalten – und trifft Obdachlose

Abseits von Musikgeschmack-Debatten zeigt diese Episode: Trinker werden von Bahnhofsbetreibern oft als Problem begriffen, dessen man sich lieber entledigen will. Die Masche mit der Musik ist übrigens nicht neu. In Leipzig zum Beispiel wird der Bahnhofsvorplatz seit 2017 mit klassischer Musik beschallt, um unerwünschte Personen zu vertreiben.

Es bleibt nicht immer bei harmloser Musik. Und die Maßnahmen treffen auch Obdachlose. Viele Menschen, die auf der Straße leben, sind alkoholsüchtig.
Insbesondere im Winter suchen sie in Bahnhöfen Schutz vor der Kälte – wenn man sie denn lässt.

Zahl der Obdachlosen ist stark gestiegen

Genau darüber verhandelten an diesem Montag Sozialsenatorin Ulrike Breitenbach (Die Linke) und Sigrid Nikutta, die Chefin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Denn Nikutta hat vor einigen Wochen in Frage gestellt, ob die BVG im Winter wieder einige Bahnhöfe nachts offen lässt. „Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir bei der veränderten Situation noch guten Gewissens diese Verantwortung tragen können“, sagte Nikutta im September. Womit sie darauf anspielt, dass die Bahnhöfe von deutlich mehr Menschen genutzt werden als noch vor einigen Jahren.

Etwa 52.000 Menschen leben in Deutschland als Obdachlose auf der Straße – das schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG-W) in ihrer Wohnungslosenstatistik aus dem Jahr 2017. Drei Jahre zuvor waren es noch 39.000 – was einem Anstieg von 33 Prozent entspricht. Weiter heißt es in dem Bericht: In den Großstädten sei jeder zweite Obdachlose Bürger eines anderen EU-Staates.

Obdachlose im Bahnhof – ein Sicherheitsproblem?

Für die BVG-Chefin Nikutta ist die zunehmende Zahl von Obdachlosen zu einem Sicherheitsproblem geworden. Sie argumentiert unter anderem mit den Starkstromleitungen an den Gleisen. Außerdem seien die eigenen Mitarbeiter nicht dafür ausgebildet, die Verantwortung für die Obdachlosen zu tragen. Das führe zu Problemen, etwa bei Reinigungsarbeiten. „Sie müssen diese Menschen, die aufgrund ihres Alkoholkonsums und wegen Sprachbarrieren nur schwer zu erreichen sind, bitten, die Bahnhöfe zu verlassen“, erklärte Nikutta der Berliner Morgenpost. In der Debatte spielen aber auch hygienische Aspekte eine Rolle: Manche Menschen, die im Bahnhof Zuflucht suchen, hinterlassen dort Hundekot, Urinpfützen oder Müll.

Zugleich verweist die BVG darauf, dass sie die Bahnhofsmission unterstützt und reguläre Übernachtungsmöglichkeiten mitfinanziert. Doch gerade alkohol- und drogensüchtige Menschen meiden die Notübernachtungsstellen oft, weil sie dort nicht konsumieren dürfen. Andere können ihre Hunde nicht mit in die Unterkunft nehmen und bleiben ihr deshalb fern.

Das Gespräch zwischen der Sozialsenatorin und der BVG-Chefin endete am Montag versöhnlich. Die BVG will nun doch zwei bis drei Schlafmöglichkeiten offenhalten – aber nicht auf Bahnsteigen, sondern in bisher ungenutzten Räumlichkeiten in U-Bahnhöfen. Senat und Bezirke sollen im Gegenzug mobile Toiletten aufstellen und Sozialarbeiter entsenden, die die Obdachlosen betreuen. Vorerst scheint also eine Lösung gefunden. Die Debatte um den Umgang mit Obdachlosen wird dennoch weitergeführt werden – nicht nur in Berlin.

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