Sozialpolitik und minderjährige Flüchtlinge

Flüchtlingskinder im Homeschooling

Karin Billanitsch21. Januar 2021
Berlin setzt auf so genannte modulare Unterkünfte bei der Unterbringung von Flüchtlingen.
Minderjährige Flüchtlinge, die unbegleitet oder mit ihren Familien in Gemeinschaftsunterkünften leben, sind mehrfach belastet, wie Kinder- und Jungendhilfeorganisationen bemängeln. SPD-Abgeordnete Rüthrich sieht die Notwendigkeit, bei wichtigen Fristen, die verstreichen, flexible Regeln zu finden.

Minderjährige Flüchtlinge, die unbegleitet oder mit ihren Familien in Gemeinschaftsunterkünften leben, sind mehrfach belastet: Sie leben während der Corona-Beschränkungen ohne Rückzugsräume, vielfach ohne digitalen Zugang, soziale Arbeit und therapeutischer Zugang ist sehr häufig nicht möglich. Über die Situation dieser jungen Menschen hat sich die Kinderkommission des Bundestages im öffentlichen Fachgespräch mit Experten informiert.

„Widersprüchliche Rechtsysteme“

„Wir haben hier die besondere Situation, dass minderjährige Geflüchtete sich in einem Spannungsfeld zwischen widersprüchlichen Rechtsystemen befinden“, sagt Ulrike Schwarz vom Projekt „Willkommen zum Ankommen“, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. Asylrecht, Jugendhilfe, Aufenthaltsrecht als reines Ordnungsrecht – in diesem Dreieck befinden sich die minderjährigen Flüchtlinge. „Nicht selten blockieren sich diese Systeme gegenseitig. Auch schon vor Corona haben uns die Zuständigkeitsprobleme zu schaffen gemacht – doch nun hat sich die Situation verschlimmert“, beschreibt Schwarz ihre Erfahrung.

Ein Problem in der Praxis ist offenbar beispielsweise die Identifizierung der minderjährigen Kinder und Jugendlichen: Viele Kinder, die mit Erwachsenen zusammen ankommen, werden nicht als Unbegleitete identifiziert. Mit der Folge, dass sie in den Sammelunterkünften landen. Wie Schwarz allerdings auch klarstellt, leben unbegleitete Minderjährige in den Kommunen normalerweise nicht in Gemeinschaftsunterkünften, sondern werden seitens des Kinderschutzes kontrolliert. Daher fordert Schwarz, dass die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe bei der Identifizierung als auch beim Zugang zu den Einrichtungen „Vorrang haben müssen“.

Isolation statt Integration

Dass die Unterkünfte keine sicheren Orte für Kinder sind – auch wenn sie nicht unbegleitet sind – prangert Nadine Kriebel vom Projekt „We talk! Gewaltschutz für geflüchtete Kinder und Mütter“ an. Haben sie ohnehin wenig Kontakt zu Außenwelt, werde das durch die Corona-Quarantänen noch verschärft. Es gebe vielerorts weder Lernräume, noch Rückzugorte für Kinder. Um die Situation zu verbessern, schlägt Kriebel, schneller niedrigere Belegungszahlen anzustreben, sowie die dezentrale Unterbringung vorzuziehen.

Von häufig fehlenden Ausweich- und Freizeitmöglichkeiten berichtet auch Janina Meyeringh, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin bei Xenion, ein Verein für psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte. Beispielsweise seien derzeit in Gemeinschaftsunterkünften die Gemeinschaftsräume oft geschlossen. Es gebe auch einen Anstieg von Gewalt zu beobachten. In den Gemeinschaftsunterkünften entstünden durch die Corona-Situation Stress und Konflikte. An die Kinder in den großen Unterkünften komme man schwer heran. „Das ist keine geeignete Lernumgebung für Kinder“, stellt Meyeringh fest.

Sie stellte darüber hinaus fest, fest, dass die therapeutische Betreuung dem Bedarf nicht mehr hinterherkommt. Es gebe monatelange Wartezeiten auf eine Behandlung. „Ein Ausbau der Hilfe ist notwendiger denn je“, so Meyeringh.

Erschwerte Teilnahme an Schule und Bildung

„Für viele schulpflichtigen Kinder gerade in Sammelunterkünften stellt der Schulbesuch den Höhepunkt dar. Dort können sie wieder Kind sein, können den Problemen und Konflikten in ihrer Umgebung entkommen.“ Doch nach dem erneuten Lockdown fehlt die soziale und schulische Teilhabe. „Es gibt einen zunehmenden Leistungsabstand zu den Kindern der Regelklassen.“ Daher fordert Meyeringh, die digitale Lernausstattung auch für diese Gruppe auszubauen.

Berlin investiert massiv in W-Lan

Die Lage ist von Kommune zu Kommune verschieden – hier ein Blick in die Praxis nach Berlin. Hier viel getan worden, um den Kindern gute Teilhabe zu ermöglichen.  „Momentan leben in unseren 79 landeseigenen Unterkünfte rund 19.000 Menschen“, teilt das zuständige Landesamt mit. Rund ein Drittel von ihnen sind Kinder und Jugendliche. In absoluten Zahlen (gerundet) stellt sich die Altersstruktur aktuell so dar: 0-5 Jahre – 2.800 Kinder, (Vorschulter), 6-11 Jahre – 2.200 Kinder (Grundschule), 12-15 Jahre – 1.300 Jugendliche (Sekundarstufe I) und 15-17 Jahre – 500 Jugendliche (Sekundarstufe II und Oberstufe)

„Mit Beginn der Pandemie im März haben wir als LAF alles daran gesetzt, die W-Lan Versorgung in allen Unterkünften zu erweitern und zu verstärken“, bekrätigt eine Sprecherin. Mit Investitionen von rund 250.000 Euro und zum Teil auch mit Unterstützung von Aktivisten wie den Freifunkern wurde die Versorgung bis in jedes Bewohnerzimmer mittlerweile auf 76 Prozent der Unterkünfte (60 Standorte) ausgeweitet. Auch in den Gemeinschaftsräumen sei bis auf wenige Ausnahmen W-Lan vorhanden. „Manche Gebäude machen uns noch baulich Schwierigkeiten, woanders fehlt ggf. noch die ausreichende Breitband-Versorgung über die Telekom“. Das sind also Gegenden, wo die ganze Nachbarschaft schlechtes W-Lan hat.

Computerarbeitsplatz und Smartphones

Es gibt demnach in Berlin in vielen Unterkünften eine Reihe Computerarbeitsplätze, viele Erwachsene haben Smartphones. Das Ausdrucken von Unterrichtsmaterial erfolgt meist mit Unterstützung der Unterkunftsleitung, heißt es. Asylsuchende Familien mit Kindern bekommen von der Senatsverwaltug bereits bei ihrer Ankunft einen Berlinpass/Bildungs- und Teilhabepaket (BuT). Dies dienst dann als Nachweis des Bedarfs und wird der Schule der Schule vorgelegt, um ein Tablet für das Lernen zuhause zu bekommen. So zumindest die Theorie.

„In der Praxis weiß noch nicht jede Familie davon, deshalb gehen wir hier verstärkt in die Kommunikation mit Unterkunftsbetreibern, um über diese tolle Möglichkeit zu informieren“, sagt die Sprecherin. „Die Mitarbeitenden der Unterkünfte haben wir gebeten, bei der Antragstellung des Berlinpass zu helfen (das ist ganz formlos möglich), falls die Familie dieses noch nicht selbst getan hat.“

Rückzugsräume sind beim Homeschooling in der Tat ein Problem, räumt sie ein, denn in den Unterkünften teilen sich die Menschen meist zu zweit oder zu dritt ein Zimmer. „Wenn mehrere Geschwister dann in einem Raum lernen sollen, kann das schwierig werden. Unsere Unterkunftsbetreiber versuchen Abhilfe zu schaffen, indem sie zum Beispiel die Gemeinschaftsräume stundenweise für kleine Gruppen zum Lernen öffnen. Aber keine Frage, es ist eine Herausforderung für alle.“

Rüthrich: „Es verstreichen momentan Fristen“

Nach der Anhöring im Bundestag fragte die DEMO bei der SPD-Abgeordneten Susanne Rüthrich nach, wie sie die Situation nun im Lichte der Anhörung beurteilt und wo aus sozialdemokratischer Sicht Handlungsbedarf besteht. „Es wurde ja vor allem auf die missliche Situation der UMF unter Corona hingewiesen. Da die Botschaften, Ämter und Unterstützungsangebote entweder ganz geschlossen sind oder nur teilweise zugänglich, verstreichen momentan Fristen, weil die Beschaffung der Unterlagen kaum möglich ist“, sagt Rüthrich. Dies dürfe nicht zu Lasten der Kinder und Jugendlichen gehen. Die Familienzusammenführungen, Anhörungen und Integrationskurse müssten möglich sein oder zumindest müsse es möglich sein, diese sozusagen nachzuholen, auch wenn die Jugendlichen die Ü-18-Grenze überschritten haben, fordert sie. Es müssten auch dringend Regelungen gefunden und ggf. Gesetzeslagen angepasst werden.

Auch mahnt die SPD-Abgeordnete, die technische und räumliche Ausstattung müsse an die aktuelle Situation angepasst werden. „Oftmals fehlt es schlicht und ergreifend an Rechner oder Tablets, damit der Distanzunterricht besucht werden kann und die Kinder und Jugendlichen nicht auch hier außen vor bleiben. Oder die Kinder und Jugendlichen sind auf engstem Raum mit ihren Familien in Unterkünften untergebracht, die ein Homeschooling nicht möglich machen. „Bestehende Ungerechtigkeiten und Probleme werden – wie in anderen Bereichen auch – noch mehr verschärft. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Corona und damit verbundene Schwierigkeiten beim Erbringen der Integrationsanforderungen, die durch Corona und nicht durch die Personen selbst verursacht sind, sich nicht nachteilig für Status und Aufenthalt auswirken. Die Kinderrechte gelten für alle Kinder und in jeder Lage, ist sie auch noch so schwierig.

Stimmen aus dem Wahlkreis

„Vor Ort wird es sofort deutlich: Die Ämter sind für alle nur eingeschränkt erreichbar. Damit ist die Beratungen für alle Kinder, so auch geflüchtete, sehr erschwert“, erzählt Rüthrich.  Es werden keine Räume in den Unterkünften zur Verfügung gestellt, es sei alles sehr beengt. „Und wie gesagt, die Fristen verstreichen. Vor Ort bekomme ich jeden Tag die einzelnen Geschichten und Schicksale mit. Da wird es konkret, woran es im Großen momentan fehlt.“ Sie richtet noch einen großen Dank an die Träger und deren Mitarbeitende, wie auch an Menschen in den Ämtern, die auch unter diesen extremen Bedingungen für die geflüchteten Menschen da seien.