Raiffeisen-Jahr

Gemeinsam stark in der Genossenschaft

Bernd Neuendorf07. Juli 2018
Filiale einer Volksbank Raiffeisenbank. Der Pionier der genossenschaftlichen Idee, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, wurde vor 200 Jahren geboren.
Warum die Idee der Genossenschaft immer noch aktueller denn je ist und vor Ort bis heute prägend. Der Pionier des Gemeinschaftswesens, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, ist vor 200 Jahren geboren. Als Bürgermeister mehrerer Kommunen hat er die Not der Landbevölkerung erlebt und wollte sie lindern.

Der 200. Geburtstag von Karl Marx ist in diesem Jahr bereits mit einer Vielzahl von Vorträgen, Dokumentationen und Publikationen gewürdigt worden. Etwas anders verhält es sich mit seinem Zeitgenossen Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Obwohl im selben Jahr wie Marx geboren, wird dem Pionier des Genossenschaftswesens bei weitem nicht dieselbe Aufmerksamkeit zuteil. Dabei prägen uns seine Ideen bis heute. Auf der Festung Ehrenbreitstein in Koblenz hat nun eine Ausstellung eröffnet, die sich dem Leben und der Ideenwelt des Sozialreformers widmet.

Raiffeisen wollte praktische Hilfe leisten

Raiffeisen schlägt nach seiner Zeit beim Militär zunächst eine Verwaltungslaufbahn ein. Zwischen 1845 und 1865 ist er Bürgermeister in mehreren kleinen Gemeinden im heutigen Rheinland-Pfalz. Hier bekommt er die Not der Landbevölkerung hautnah mit. "Anders als Marx wollte Raiffeisen die Gesellschaft nicht revolutionieren", erklärt Projektleiterin Angela Kaiser-Lahme. "Er wollte praktische Hilfe leisten und damit die Verhältnisse verändern."

Zwar hatten die Reformen von Stein und Hardenberg die Bauern von der Leibeigenschaft befreit. Aber häufig mußten sie einen Teil des von ihnen bewirtschafteten Landes an die früheren Gutsherren abtreten oder einen finanziellen Ausgleich leisten. Viele sahen sich zur Aufnahme von Krediten gezwungen, für die rücksichtslose Geldverleiher Wucherzinsen verlangten. Die Folge war eine zunehmende Verelendung.

Mann der Tat

Raiffeisen ist ein Mann der Tat. Er will die Lage grundlegend verbessern und gründet – aus dem Gedanken der christlichen Nächstenliebe heraus – Hilfsvereine. Die finanziellen Mittel stellen zumeist wohlhabende Familien zur Verfügung. So wird die Anschaffung von Gütern, die eine Selbstversorgung der Bauern ermöglicht, gesichert. Als die Bereitschaft zur Unterstützung bröckelt, wird Raiffeisen klar, „dass derartige Vereine nur dann lebensfähig sind und bestehen können, wenn sie auf die unbedingte Selbsthilfe gegründet, d.h. nur aus solchen Personen gebildet sind, welche der Hilfe persönlich bedürfen.“

Fortan setzt Raiffeisen verstärkt auf so genannte Darlehenskassen, deren Mitglieder aus Kreditgebern- und nehmern gleichermaßen bestehen. Es entsteht ein Haltung wechselseitiger Solidarität. Der Kreditnehmer von heute konnte der Kreditgeber von morgen sein. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte auch Hermann Schulze-Delitzsch, ein weiterer Sozialreformer des 19. Jahrhunderts. „Nicht Arme zu unterstützen, sondern der völligen Verarmung vorzubeugen, ist der Zweck dieser Vereine“, sagte Schulze-Delitzsch. Gemeint ist Hilfe zur Selbsthilfe. 

Darlehenskassenvereine entstehen 

Raiffeisens Idee macht rasch die Runde. Erst recht nachdem 1866 sein Standardwerk „Die Darlehenskassenvereine als Mittel zur Abhülfe der Noth der ländlichen Bevölkerung“ erscheint. Zwei Jahre später gab es in der Rheinprovinz bereits 75 solcher Darlehenskassenvereine an die sich oft auch Warenbezugs- und Absatzzentralen anschlossen. Und es werden immer mehr – bis zur Zeit des Nationalsozialisms. Nun werden die von Raiffeisen angelegten genossenschaftlichen Strukturen systematisch zerstört und seine Prinzipien – Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung - außer Kraft gesetzt.

Nach dem Krieg setzen neu gebildete ländliche Genossenschaften zunächst auf die Produktion und den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte. Zunehmend werden diese Warengenossenschaften aber aus Kostengründen zentralisiert. Und auch die Darlehenskassen fusionieren und gründen 1972 den Bundesverband der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken. Im Osten erfolgt der Aufbau der sozialistischen Wirtschaft und die Bodenreform. Bestehende Genossenschaften werden den Vorgaben der Planwirtschaft angepasst und in Produktionsgenossenschaften überführt.

Renaissance kleinerer Genossenschaften

Die Ausstellung schlägt, so Angela Kaiser-Lahme, bewußt einen Bogen in die heutige Zeit, in der gerade die Gründung kleinerer Genossenschaften eine Renaissance erfährt. Die Besucher werden in die Ausstellung einbezogen – ihre Meinung zum heutigen Wirtschaftssystem ist gefragt. Heutige Genossenschaften orientierten sich nach wie vor am Gemeinwohl und nicht an der Gewinnmaximierung, so die Projektleiterin. Das gelte es bewußt zu machen. Raiffeisens Ideen seien „elementar menschlich“ und weltweit „aktueller denn je“.

In der Tat: Heute bringen sich über eine Milliarde Menschen auf dem gesamten Globus in Genossenschaften ein. In Deutschland organisieren sich 22,6 Millionen Mitglieder in rund 8000 Genossenschaften. Es gibt Energiegenossenschaften, Molkerei-, Konditoren-, Wohnungsbau-, Brauerei-, und Winzergenossenschaften. „Die historische Erfahrung ist eindeutig: Ideen des kollektiven Wirtschaftens waren immer eine Reaktion auf wirtschaftliche und soziale Krisen. Deswegen haben solche Ideen jetzt Hochkonjunktur“, heißt es bei der Hans-Böckler-Stiftung.

„Einer für alle - alle für einen“

„Einer für alle – alle für einen“, lautete die Losung Raiffeisens. Dieser Grundsatz hat eine große Wirkung entfaltet. 1986 ist die Genossenschaftsidee und -praxis von der UNESCO als Immatrielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt worden. Und Raiffeisen? Die Erinnerung ist etwas verblasst, auch wenn bis heute seine Ideen prägend sind.