
DEMO: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will bundesweit 1.000 Gesundheitskioske schaffen. Was ist ein Gesundheitskiosk?
Anja Stührenberg: Ein Gesundheitskiosk ist eine sehr niedrigschwellige Beratungseinheit, die sich insbesondere an vulnerable Bevölkerungsgruppen wendet, aber auch anderen Bevölkerungsgruppen offensteht. Der Kiosk soll eine zentrale Anlaufstelle sein für Fragen zur sozialen oder gesundheitlichen Versorgung. Er kann nachgelagerte Strukturen entlasten. Zum Beispiel, indem dort manche Fragen schon beantwortet werden können, sodass ein Besuch in der Arztpraxis gar nicht mehr notwendig ist oder gezielter angesteuert werden kann. Oder weil jemand nach dem Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt noch weiterführende Fragen zur Alltagsgestaltung und Bewältigung seiner Erkrankung hat. Die Gesundheitskompetenz der Menschen soll dadurch gestärkt werden, sodass sie gesünder leben. Perspektivisch denkt der Gesetzgeber auch daran, dass kleinere medizinische Routineleistungen dort stattfinden könnten. Das könnte heißen, dass zum Beispiel eine Pflegekraft Blutdruck misst oder kleinere Wunden versorgt und dadurch die Praxen entlastet.
Der erste Gesundheitskiosk wurde in Hamburg gegründet. Ihr Unternehmen OptiMedis war an dem Modellprojekt beteiligt. In welcher Rolle?
Helmut Hildebrandt: Angestoßen hat das ein niedergelassener Arzt aus Billstedt-Horn, das sind zwei ärmere Stadtteile in Hamburg. Unser Unternehmen hatte im Kinzigtal schon Erfahrungen gesammelt, wie man niedergelassene Ärzte, andere Einrichtungen im Gesundheitswesen und Vereine vernetzt, um gemeinsam die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern. Der Arzt fragte uns: Können wir das nicht auch in Billstedt-Horn machen? Für uns war es genau das Richtige. Das Kinzigtal ist eine wohlhabende Region, und wir wollten nachweisen, dass so eine Intervention überall möglich ist. Also haben wir Anträge gestellt, ein Konzeptpapier erarbeitet und es vorgestellt. Die Stadt und die AOK Rheinland/Hamburg waren sehr interessiert. Also haben wir eine Organisation von niedergelassenen Ärzten in der Region gegründet, weitere Partner angesprochen und einen Antrag für den „Innovationsfonds“ geschrieben. Der Gesundheitskiosk war eines der von uns vorgeschlagenen Module.
Wie sah das Konzept aus?
Hildebrandt: Es ging darum, die Vernetzung aller Beteiligten aus dem Gesundheitswesen im Stadtteil zu organisieren. Dazu braucht es eine Anlaufstelle, wo die Bevölkerung sich hinwenden kann. Billstedt-Horn hatte das besondere Problem der Sprachenvielfalt. Viele Menschen verstehen nicht, welche Verhaltensempfehlungen der Arzt dem Patienten aus der Befundung heraus gibt – zum Beispiel bei chronischen Erkrankungen. Deshalb wurde der Kiosk auf das Thema Sprachvermittlung ausgerichtet. Dort haben wir Pflegekräfte eingestellt, die selbst muttersprachlich aus den Sprachen kommen, die dort vorwiegend gesprochen werden. Sie übersetzen aber nicht nur, sondern hatten auch selbst schon Fortbildungen gemacht zu Themen wie Raucherentwöhnung, Ernährungstherapie oder Bewegungsansätze.
Wenn die Patient*innen also mit einem Befund vom Arzt kommen, können wir sie dabei unterstützen, mit der Krankheit umzugehen. Andere waren noch gar nicht beim Arzt, weil sie nicht wissen, wie das deutsche Gesundheitssystem funktioniert. Hier übernimmt der Kiosk eine Lotsenfunktion und vermittelt sie an die richtigen Stellen im Gesundheitssystem. Die Evaluation zeigt, dass bestimmte ambulant-sensitive Krankheitsfälle, die ansonsten im Krankenhaus auftauchen, durch die Intervention in geringerem Maße aufgetreten sind.
Auch in Thüringen werden jetzt Gesundheitskioske etabliert. Hier liegt der Fokus auf dem ländlichen Raum. Was unterscheidet das Thüringer Modell von der Herangehensweise in Hamburg?
Hildebrandt: Die Sprachenvielfalt, die es in Hamburg gibt, gibt es im Unstrut-Hainich-Kreis nicht. Hier ist die Herausforderung, dass viele Menschen in ihren Höfen oder Häusern einsam sind. Sie haben größere Mobilitätsbarrieren. Die Busverbindungen sind deutlich schlechter als in einer Großstadt. Deshalb verknüpfen wir die Kioske digital mit den Arztpraxen und Kliniken und bieten telemedizinische Sprechstunden an. Das erspart den Leuten, morgens mit dem Bus in die Kreisstadt fahren zu müssen und nachmittags zurück, nur um für eine Befundung acht Minuten in einer Arztpraxis zu sein. Gerade auf dem Land gibt es noch nicht überall schnelles Internet. Aber unsere Kioske sind digital gut angebunden.
Welche Rolle spielen die Kommunen bei der Etablierung von Gesundheitskiosken?
Hildebrandt: Bei unseren Projekten in Billstedt-Horn und Thüringen sind die Kommunen als starke Unterstützer im Boot, aber sie finanzieren die Projekte nicht. In Thüringen haben fünf Gemeinden zusammen eine kommunale Stiftung etabliert, um ihre Region zu beleben. Diese Gemeinden haben praktisch die ganze Vorarbeit gemacht und sich dann mit uns zusammengetan, damit wir Vernetzungsarbeit leisten und die Verträge mit den Krankenkassen weiterentwickeln.
Was wird sich absehbar mit dem von Karl Lauterbach geplanten Gesetz für die Gesundheitskioske ändern?
Anja Stührenberg: Das ist eine Riesenchance für die Kommunen, weil sie künftig ein Initiativrecht bekommen. Sie können dann entscheiden, dass sie einen Gesundheitskiosk in ihrer Stadt oder ihrem Landkreis haben wollen, und die Krankenkassen müssen sich beteiligen. Die Kassen tragen auch den größten Anteil der Kosten. Allerdings müssen sich die Kommunen künftig selbst mit 20 Prozent der Gesamtkosten beteiligen. Das kann Kommunen mit Haushaltsdruck durchaus vor Herausforderungen stellen. Nichtsdestotrotz sehe ich das Gesetz als Chance, dass die Kommunen mehr Gestaltungskraft für die Gesundheitsversorgung übernehmen können. Gesundheitskioske sind auch als Netzwerkstruktur zu verstehen, die verschiedene Komponenten miteinander verstrickt: den öffentlichen Gesundheitsdienst, andere soziale Versorgungseinheiten, aber auch den Gesundheitsschutz oder die Gesundheitsberichterstattung. Im Moment bekommen Kommunen oft nur den Ärger ab, wenn Bürger*innen beklagen, dass die Versorgungswege zu weit sind oder Arztpraxen keine Patienten mehr annehmen. In Zukunft haben sie mehr Gestaltungsmöglichkeiten.
Nicht alle Kassenärzt*innen sind begeistert von dem neuen Konzept. Da heißt es zum Teil: Die Politik solle lieber die niedergelassenen Praxen stärken, statt Doppelstrukturen zu schaffen. Ist die Kritik berechtigt?
Helmut Hildebrandt: Sie können gern in Thüringen nachfragen. Die dortige Kassenärztliche Vereinigung und die Ärztekammer unterstützen das Projekt total. Sie haben verstanden, dass es die Arztpraxen entlastet. Die Frage ist auch, was es bringen würde, das für Gesundheitskioske vorgesehene Geld stattdessen den Praxen zu geben. In einem Landkreis mit 300.000 Einwohnern haben Sie vielleicht 110 Arztpraxen. Wenn ein Gesundheitskiosk 400.000 Euro kostet und Sie das Geld stattdessen auf die niedergelassenen Ärzte verteilen, kommen Sie auf weniger als 400 Euro pro Praxis. Das würde nichts spürbar verbessern.
Anja Stührenberg: Manche Praxen haben vielleicht Angst, dass ihnen durch die Gesundheitskioske Patienten weggenommen werden. Nach unserer Erfahrungen passiert das aber nicht. Stattdessen wird der Aufwand pro Patient*in auf mehrere Schultern verteilt. Der Gesundheitskiosk ersetzt den Arztbesuch nicht, aber er gibt den Ärzt*innen mehr Zeit für die wirklichen medizinischen Belange.
Das Gesundheitswesen leidet unter Fachkräftemangel. Wo sollen die kompetenten Mitarbeiter*innen für 1.000 Gesundheitskiosken herkommen?
Helmut Hildebrandt: Die Zahl von 1.000 Gesundheitskiosken halte ich für zu ambitioniert. Wenn wir in dieser Wahlperiode 100 schaffen, ist das schon sehr viel. Was das Personal betrifft, haben wir in Thüringen die Erfahrung gemacht, dass wir Pflegekräfte wieder für den Gesundheitsbereich zurückgewinnen konnten. Also Menschen, die mittlerweile schon den Beruf gewechselt hatten. Das sind vor allem ältere Fachkräfte mit viel Lebens- und Berufserfahrung. Für die Beratungsaufgaben im Kiosk oder als Gemeindepflegekräfte und Gesundheitslotsen in unseren nordhessischen Regionen sind sie ideal. In Hamburg hatten wir eher jüngere Mitarbeiter*innen, vielfach aus Migrationsfamilien in der Migrationsabkömmlinge der zweiten Generation, die zweisprachig aufgewachsen sind. Für sie war der Gesundheitskiosk die zweite oder dritte Stelle im Gesundheitswesen. Personal zu finden, war nirgendwo das Problem.
Anja Stührenberg: Wir wünschen uns, dass sich die Berufe im Gesundheitsbereich weiterentwickeln, sodass medizinisches Know-how und sozialarbeiterische Ansätze zusammengeführt werden. Für Leitungsaufgaben im Gesundheitskiosk eignet sich das Berufsbild der „Community Health Nurse“. Das ist ein Erfolgsmodell, das auch in anderen Ländern schon gut funktioniert, wo es einen stärker quartiersbezogenen und sozialräumlichen Ansatz für die Gesundheitsversorgung gibt.
Dr. h. c. Helmut Hildebrandt ist Apotheker und Gründer und Vorstandsvorsitzender von OptiMedis. Anja Stührenberg ist Gesundheits- und Krankenpflegekraft mit einem Master in Gesundheitsmanagement. Sie ist dort Projektmanagerin und auf die Entwicklung von Gesundheitskiosken spezialisiert.
Die OptiMedis AG ist ein aus dem Universitätskrankenhaus Eppendorf hervorgegangener Thinktank, der 2003 gegründet wurde und sich auf die Entwicklung neuer regionaler Versorgungsformen im Gesundheitssektor mit einer Verknüpfung zu den kommunalen Strukturen spezialisiert hat. OptiMedis hat das Konzept für den ersten Gesundheitskiosk erarbeitet, betreut mehrere Gesundheitsregionen u.a. in Nordhessen und ist in Thüringen und andernorts am Aufbau von Gesundheitskiosken beteiligt.
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