Interview mit Sven Ambrosy

„Handlungswirksamkeit, Respekt und Wertschätzung“

Karin Billanitsch19. März 2018
Selbst schon früh in der Kommunalspolitik: Sven Ambrosy, Landrat des Landkreises Friesland.
Der Landkreis Friesland ist Vorreiter in Sachen Kinder- und Jugendbeteiligung. Landrat Sven Ambrosy erläutert, auf welchen Wegen die Ideen junger Menschen umgesetzt werden und warum Partizipation so wichtig ist.

Herr Ambrosy, was war Ihr erstes politisch prägendes Erlebnis?
Meine damalige Heimatstadt war ­Wunstorf, eine Stadt mit 40.000 Einwohnern. Wir wollten ein Jugend­freizeitzentrum. Als wir angefangen haben, war ich 16 Jahre alt. Umgesetzt wurde das Zentrum Jahre später, als ich schon in der Ratsfraktion und der Partei mitgearbeitet habe. Dieser Prozess hat mich insofern beeindruckt, als dass er viel zu lange gedauert hat. Das muss nicht sein, dass die Betroffenen darüber älter werden und das Ergebnis selbst nicht mehr nutzen können.

Oft wird, auch von Politikern, ­mangelndes politisches Interesse der Jungen beklagt. Wie weckt man politisches Interesse?
Also erst einmal würde ich sagen, dass die These nicht stimmt. Ich mache seit 1986 Kommunalpolitik mit ganz vielen Jugendlichen. Ich bin also selbst ein Gegenbeispiel. Der Grund für Ihre Annahme ist vielleicht, dass Jugendliche sich oftmals nicht langfristig binden wollen, weil sie in der Orientierung sind, insbesondere wenn es um Schule oder Ausbildung geht oder die Frage, wo sie studieren. Parteien sind da nicht so attraktiv – ganz besonders, wenn es dann noch Vorurteile gibt. Ich kenne das auch von meiner Familie und Freunden, die ganz überrascht sind, dass Parteiveranstaltungen ganz anders waren, als sie selbst dachten – nämlich spannend und interessant.

Anders gesagt, Politik aktiv zu erleben, nicht nur zusehen ist vielleicht eine Möglichkeit, Leute mitzunehmen. Welche üblichen Beteiligungsformen für junge Menschen gibt es?
Im Landkreis Friesland vielfältige. Wir haben am bundesweiten Demografiekongress als Referenzlandkreis teilgenommen neben drei weiteren, Vorpommern-Rügen, Lichtenfels und dem Kyffhäuserkreis. Wir haben uns überlegt, nicht aus Sicht der Älteren vorzugehen, sondern zu fragen, wie es den Jüngeren in einer älter werdenden Gesellschaft ergeht. Das haben wir zugrunde gelegt und in Workshops, etwa in Schulen, rund 600 Jugendliche und Kinder von 15.000 im Landkreis dazu gebracht, sich Gedanken zu machen, wie ihr Landkreis, ihre
Stadt, ihre Gemeinde aussehen müssten, damit sie sich wohlfühlen. Ihre Antworten flossen auch in eine Jugend-Demografiestrategie des Landkreises Friesland ein.

Was kam bei diesem Prozess ­heraus?
Es gab cirka 1.200 Einzelergebnisse, die wir ausgewertet haben. Das Geheimnis des Erfolgs, warum so viele mitgemacht haben, war ein Grundsatzbeschluss des Kreistages, der besagt: „Wir wollen diesen Prozess und wir versprechen euch, die Ergebnisse bei unserer Schulentwicklungsplanung und unserer regionalen Raumordnungs- und Jungendhilfeplanung zu berücksichtigen.“ Die Jugendlichen hatten das Gefühl „Wir werden ernst genommen und das, was wir machen ist nicht für die Tonne“.

Was wurde in der Folge umgesetzt?
Eine Folge ist, dass wir jetzt ein Jugendparlament mit einem eigenen Budget von 50.000 Euro haben. Und die Mitglieder des Jugendparlaments haben beratende Stimmen in den Kreistags-Ausschüssen. Das heißt, wir haben Jugendparlamentspolitik und Kreistag vernetzt.

Ein eigenes Budget als wichtige ­Voraussetzung für echte Mit­wirkung haben Sie schon genannt. Was ist noch zentral?
Das ist erstens Respekt: „Wir Älteren nehmen euch Jüngere ernst und erwarten natürlich auch, dass umgekehrt ihr uns ernst nehmt.“ Zweitens Wertschätzung: „Ich bin vielleicht nicht deiner Meinung, aber ich finde es gut, dass du dich engagierst.“ Das gilt auch wieder in beide Richtungen. Und das Dritte ist Handlungswirksamkeit: Niemand will sich engagieren, auf etwas anderes verzichten, wenn er damit nichts bewirken kann. Diese drei Dinge muss man ernsthaft und authentisch vermitteln und Wege finden, dass das gelebt wird. Das scheint bei uns der Fall zu sein, jedenfalls wird uns das immer wieder gespiegelt.

Können Sie Beispiele für diese ­Zeichen der Wertschätzung nennen?
Wenn wir zum Beispiel Vertreter des Jugendparlaments einladen, dann kommen die Fraktionsvorsitzenden und diskutieren mit ihnen. Das ist ja schon eine sehr hohe Ebene. Oder dass der Landrat sich persönlich engagiert. Diese Signale kommen bei den Jugendlichen an.

Inwieweit ist das Kreisjugendparlament in kommunalpolitische Strukturen eingebunden?
Zum Beispiel sind Vereine und große Verbände eingebunden, mit denen es eine gute Rückkopplung gibt. Darüber hinaus existiert im Jugendamt eine Jugendpflegerin, die sich sehr für das Kreisjugendparlament einsetzt. Diese zentrale Ansprechperson, die alles koordiniert und eine Scharnierfunktion hat, ist ein weiterer wichtiger Erfolgsbaustein. Ich glaube, Parallelstrukturen sind nie erfolgreich, weil die Handlungswirksamkeit darunter leidet. Wir haben bewusst unser kommunalverfassungsrechtliches System genommen und diese Strukturen aufgesetzt.
Und zusätzlich gibt es die Internet-Plattform „Liquid Friesland“, wo Bürgerinnen und Bürger – natürlich auch Kinder und Jugendliche – online Vorschläge machen können. Diese werden im Netz diskutiert. Der Kreistag behandelt diese Liquid-Friesland-Prozesse als offizielle Anfragen nach Kommunalverfassungsrecht. Das heißt, die Ausschüsse müssen sich mit diesen Dingen auseinander­setzen.

Gibt es Ideen von jungen Menschen, die Sie im Landkreis Friesland ­konkret umgesetzt haben?
Ja, einige. Dabei gab es zunächst Vorurteile von beiden Seiten. Ältere Politiker mögen oft denken, Jugendliche hätten spinnerte Ideen, die kostspielig sind. Die Jugendlichen glaubten, Kreispolitikern sei nicht wichtig, was für sie bedeutsam ist. Und was ist passiert? Die Jungen haben einen besseren ÖPNV angeregt. Und parallel dazu hat der Kreistag beschlossen, den Nahverkehrsplan zu modernisieren. Die jungen Leute sagten: „Wenn ich schon hier in der Pampa wohne, brauche ich Breitband.“ Was hat der Kreistag beschlossen? Breitbandausbau. Die älteren Kreistagsabgeordneten haben mitbekommen, dass die Jungen wie sie denken und dieselben Themen wichtig finden. Und die Jugendlichen haben festgestellt, dass sie teilweise offene Türen einrennen und die Kreistags­politik auf der Höhe der Zeit ist.

Ein Aha-Effekt auf beiden Seiten ­sozusagen …
… Richtig. Bis hin zu einem Workshop über die Verwaltungsstruktur in ländlichen Räumen in 20, 30 Jahren. Ich hätte nie gedacht, dass so ein Thema die Jugendlichen interessiert.

Welche Bilanz ziehen Sie bis jetzt? Sind die Jugendparlamente der richtige Weg, um Jugendlichen mehr Mitsprache zu gönnen?
Sie sind immer dann der richtige Weg, wenn die Initiative von den Jugendlichen selbst ausgeht. Wenn sie davon nicht begeistert sind, kann man so viel guten Mutes sein und Geld geben, es wird nicht klappen. Bei uns war die Entscheidung wirklich ein Prozess auf Wunsch der Jugendlichen. Wir haben sie in den Jugendhilfeausschuss eingeladen und mit ihnen diskutiert: „Wie wollt ihr es haben? Wenn ihr in die Ausschüsse wollt, wenn ihr Euch regelmäßig treffen wollt, finden wir einen Weg.“ So ist die Idee des Jugendparlaments entstanden. Als sie sich eine Geschäftsordnung gegeben haben sowie bei rechtlichen Fragen haben wir natürlich geholfen. Die Wünsche der Jugendlichen wurden dann eins zu eins vom Kreistag umgesetzt. Damit haben die Jugendlichen natürlich einen hohen Anreiz gehabt zu sagen: „Mensch, das ist unser Jugendparlament.“

Welche Bedeutung kommt kommunalen Bildungseinrichtungen oder Kinder- und Jugendzentren bei der politischen Bildung zu?
Eine hohe, weil in Jugendfreizeitzentren, Schulen usw. junge Menschen erstmals mit einer öffentlichen Institution zu tun haben. Wenn die Schule in einem guten baulichen Zustand und modern eingerichtet ist, dann ist das eine Aussage der Gesellschaft gegenüber den Schülern: „Wir nehmen euch ernst. Ihr seid uns wichtig.“ Das wird beiläufig kommuniziert. Übrigens, auch der Bürger weiß dann, wofür er Steuern zahlt. Wir haben beispielsweise in 16 kreisangehörige Schulen bislang 130 Millionen Euro in die Modernisierung gesteckt. Für die weiteren Jahre bis 2023 werden nochmals 40 Millionen bereitgestellt und ein Masterplan entwickelt. Daran können sie unsere Wertschätzung messen. Wenn dem Kreistag und einem Landrat Bildung wichtig ist, muss sich das auch im Haushalt widerspiegeln.

Da wir gerade beim Thema Schule sind: Lange Schulzeiten, wenig Freizeit, stimmen denn überhaupt noch die Rahmenbedingungen für ehrenamtliches politisches Engagement?
Wir haben flächendeckend Ganztagsschulen. Theoretisch könnte man hier überall Arbeitsgemeinschaften einführen. Die Lehrpläne in Geschichte und Politik sind theoretisch so angelegt, dass Kommunalpolitik integriert werden könnte. Wenn man sich umhört, stehen Europapolitik, Bundespolitik, manchmal Landespolitik auf dem Lehrplan – aber keine Kommunalpolitik. Warum das so ist, darüber kann ich nur Vermutungen anstellen. Aber ich werbe sehr dafür, die Kommunalpolitik ist die Basis des gesamten Staatswesens und unserer Gesellschaft. Hier vor Ort erfahren Menschen, ob der Staat sie ernst nimmt, ob sich gekümmert wird, die Straßen und Schulen in Ordnung sind, ob Naturschutz einen Wert hat oder ob Kulturpolitik und Wirtschaftsförderung betrieben werden. Ich rede oft mit Lehrern, warum sie gewählte Kommunalpolitiker zum Beispiel nicht einladen oder mal kommen. Zwischen den Wahlen fürchten manche Beeinflussung. Und vor der Wahl sagt man, „da laden wir euch erst recht nicht ein, denn jetzt wollt ihr ja gewählt werden“.
Da sind Berührungsängste, und – das schwang ja in ihrer ersten Frage mit – ­Politik hat keinen guten Ruf. Das müssen wir ändern.