Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht

Hartz IV-Sanktionen auf dem Prüfstand

Christian Rath15. Januar 2019
Wartebereich einer Arbeitsagentur. Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über die Rechtmäßigkeit von Hartz IV-Sanktionen
Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über Hartz IV-Sanktionen. Regierungs-Anwalt Karpenstein: Hunger und Obdachlosigkeit müssen vermieden werden.
Kann das Existenzminimum gekürzt werden, wenn Arbeitslose Mitwirkungspflichten verletzen. Am Dienstag verhandelten die Richter
über die Frage, ob Sanktionen für Hartz IV-Empfänger mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Bisher drohen Kürzungen, wenn etwa ein Termin im
Jobcenter verpasst oder eine zumutbare Arbeit abgelehnt wird.

Hartz IV-Empfänger aus Erfurt

Anlass der Verhandlung war ein Fall aus Erfurt. Einem arbeitslosen ausgebildeten Lagerarbeiter war ein Job im Lager des Online-Versands Zalando angeboten worden. Der Mann wollte aber lieber im Verkauf arbeiten. Darauf kürzte ihm das Jobcenter Erfurt für drei Monate die Hartz IV-Leistungen. Als es ihm später eine Erprobung im Verkauf ermöglichte, nahm der Mann den Gutschein nicht wahr. Wieder wurde sein Arbeitslosengeld 2 gekürzt, diesmal um 60 Prozent, weil es sich um einen Wiederholungsfall handelte.
 
Das Sozialgericht Gotha legte den Fall 2016 in Karlsruhe vor. Der zuständige Richter Jens Petermann (ein Ex-Bundestagsabgeordneter der Linken) hielt die Sanktionsmöglichkeiten generell für verfassungswidrig. Vom Existenzminimum seien keine Abstriche möglich, auch bei der Verletzung von Mitwirkungspflichten.

Hubertus Heil erklärt Hartz IV-Reform

Sozialminister Hubertus Heil (SPD) erklärte in Karlsruhe die 2005 eingeführten Hartz IV-Reformen mit ihrer „aktivierenden“ Arbeitsmarktpolitik. „Wir wollen Arbeitslosigkeit nicht verwalten, sondern überwinden.“ Der Sozialstaat müsse die Möglichkeit haben, zumutbare Mitwirkungspflichten einzufordern. „Ohne Kürzungsmöglichkeit würde die Regelung leerlaufen.“ Tatsächlich seien von knapp 6 Millionen Hartz IV-Beziehern aber nur rund 3 Prozent von Sanktionen betroffen. Das wären etwa 200 000 Personen.
 
Der Anwalt der Bundesregierung, Ulrich Karpenstein, wies die Argumentation des Sozialgerichts Gotha zurück. Das Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum sei ein eigenständiges Grundrecht neben der Menschenwürde. Anders als bei der Menschenwürde seien hier auch gesetzliche Einschränkungen möglich. Die Sanktionen seien bei Pflichtverletzungen zudem gerechtfertigt, da das Menschenbild des Grundgesetzes von Eigenverantwortung und vom „Vorrang der Selbsthilfe“ ausgehe. Wer die Mitwirkung verweigere, könne deshalb nur bedingt vom Staat Hilfe erwarten.
 
„Der Staat lässt aber niemand verhungern, der seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt", betonte Regierungs-Anwalt Karpenstein. Auch Obdachlosigkeit müsse verhindert werden. Das „Unerlässliche“ müsse der Staat immer gewähren, sonst seien Sanktionen nicht verhältnismäßig. In der Praxis geben Jobcenter an Betroffene zum Beispiel Lebensmittelgutscheine aus. Dies ist auch im Gesetz vorgesehen.

Verfassungsrichter irritiert

Die Verfassungsrichter zeigten sich dennoch irritiert. „Was ist denn der Unterschied zwischen dem Existenzminimum und dem unerlässlichen
Existenzminimum“, fragte etwa Richter Andreas Paulus. *
 
Friederike Mussgnug von der Diakonie Deutschland sagte: "Bei den Pflichtverletzungen handelt es sich oft nicht um Verweigerung, sondern um Überforderung". Es gehe um persönliche Krisen, Konflikte in der Familie, Depressionen und andere psychische Krankheiten. Viele Arbeitslose seien auch mit der Mitwirkung in einem Verwaltungsverfahren überfordert. "Das sind Menschen, die sich nicht ausdrücken können, nicht Menschen, die sich drücken."

Statistiken zu Sanktionen: „Keine Schieflage“

Der zweite Regierungsanwalt Matthias Kottmann verwies dagegen auf die Statistik der Bundesagentur für Arbeit. "Statistisch am häufigsten sind von Sanktionen junge Männer mit Hauptschulabschluss auf dem Land in Westdeutschland betroffen", so Kottmann. Es gebe also "keine Schieflage zulasten besonders verletzlicher Gruppen." Personen ohne Schulabschluss würden unterdurchschnittlich häufig sanktioniert, ebenso Ausländer und Alleinerziehende. Zu psychisch Kranken gebe es keine Statistik, aber eine repräsentative Befragung habe ergeben, dass in nur drei Prozent der Fälle psychische Probleme der Grund für eine Pflichtverletzung waren.
 
Die federführende Verfassungsrichterin Susanne Baer deutete an, dass die bisher starre Ausgestaltung der Sanktionen ein Problem sein könnte. Das Jobcenter habe kein Ermessen. Die Kürzung müsse immer drei Monate dauern, sogar wenn die Pflicht inzwischen erfüllt wurde.

Eine Million Sanktionen für Hartz IV-Empfänger im Jahr 2017

Eine Million Sanktionen haben die Jobcenter im Jahr 2017 verhängt. Viele Empfänger waren mehrfach betroffen. In rund drei Viertel aller Fälle geht es um Meldepflichten. Dann wird der Regelsatz von derzeit 424 Euro um zehn Prozent gekürzt. Wenn eine zumutbare Arbeit oder ein Training ohne wichtigen Grund abgelehnt wird, droht die Kürzung um 30 Prozent. Bei jungen Menschen unter 25 Jahren kann gleich beim ersten Verstoß die gesamte Leistung für drei Monate gestrichen werden.
 
Das Bundesverfassungsgericht wird sein Urteil in einigen Monaten verkünden.