Coronavirus

Hygiene-Demos: „Für die Rechten ein Möglichkeitsfenster, neue Anhänger zu finden“

Kai Doering14. Mai 2020
Rechtsextremismusforscher und Soziologe Matthias Quent
Rechte Kräfte versuchen, Kapital aus der wachsenden Unzufriedenheit mit den Corona-Maßnahmen schlagen. Gefährlich könne es werden, wenn es erneut zu einem Lockdown käme, warnt Rechtsextremismus-Experte Matthias Quent.
Am Wochenende sind in verschiedenen Städten mehrere tausend Menschen gegen die Corona-Bestimmungen auf die Straße gegangen. Was sind das für Leute, die sich da zu „Hygienedemos“ versammeln?

Das ist eine diffuse, zum Teil auch skurrile Mischung von Leuten, von denen wohl niemand erwartet hätte, dass sie mal gemeinsam bei einer Demo sind. Sie reichen von langhaarigen Impfkritikern bis hin zu AfD-Leuten und Hooligans. Das zumindest war mein Eindruck von der Demonstration, die ich am Wochenende in Erfurt besucht habe, von weiteren, von denen Videos im Netz kursieren sowie vom Geschehen in den sozialen Netzwerken. In der besonderen Corona-Situation eröffnet sich ein Möglichkeitsfenster, die Leute zusammenzubringen, die offenbar meinen, dass die Corona-Politik der Bundesregierung schlimmer sei als die Nazis, die Antisemiten oder die Verschwörungstheoretiker, mit denen sie jetzt gemeinsame Sache machen.

 Das Bundeskriminalamt warnt davor, dass Akteure aus dem rechten Spektrum versuchen könnten, die Proteste zu kapern. Sehen Sie die Gefahr auch?

Ja, mit Sandro Witt habe ich schon vor zwei Wochen genau davor gewarnt. Rechte Kräfte versuchen, aus der Situation Kapital zu schlagen. Da rufen Martin Sellner als Vertreter der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ und das ebenfalls rechtsextreme „compact“-Magazin zu den Protesten auf. Und in den Chatgruppen der Protestgruppen sind rechtsradikale Alternativmedien, AfD-Politiker und Verschwörungsideologen extrem präsent und finden zum Teil neue Öffentlichkeiten. Die Krise gibt ihnen jetzt eine Möglichkeit, ihr Denken und ihre Ideologie auf die Straße zu tragen und politische Relevanz zu entwickeln. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist, dass sie etwas tun, was alle anderen aus Rücksichtnahme wegen Corona nicht tun: im großen Stil demonstrieren. Dadurch können sie das öffentliche Bild dominieren, einfach weil die Gegenposition kaum sichtbar ist. Für die Rechten ist das ein Möglichkeitsfenster, neue Anhänger zu finden.

Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, die von der Bewegung ausgeht?

Wir sollten das Ganze nicht überbewerten, aber auch nicht verharmlosen. Im Moment ist das Spektrum sehr überschaubar. Zwar ist es erschütternd, wenn in Stuttgart 5000 Menschen auf die Straße gehen, aber wirklich viele Demonstranten sind das nicht, wenn man es mit anderen Protesten vergleicht. Trotzdem sollte man die Proteste ernstnehmen. Denn es besteht durchaus die Gefahr, dass die Bereitschaft wächst, solchem Denken zu folgen, wenn es zu einem zweiten Lockdown kommen sollte oder die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise spürbarer werden. Insofern lautet der Appell: Wehret den Anfängen.

Die AfD hat in der Coronakrise eher an Zuspruch verloren. Könnte sich das ändern, wenn sie sich zur Wortführerin der Unzufriedenen macht?

Es wird bereits erkennbar, dass die AfD versucht, die Slogans der Demonstranten zu annektieren und die Bewegung zu vereinnahmen, um aus dem Umfragetief herauszukommen. Besonders groß schätze ich die Gefahr in Ostdeutschland ein, wo sich der völkisch-nationalistische Flügel der Partei bewusst national-sozial aufgestellt hat. Die Gruppe um Björn Höcke könnte reüssieren, wenn sich die soziale Situation weiter verschärft und die Arbeitslosigkeit zunimmt. Das hängt natürlich stark von der Politik der Bundesregierung ab und davon, wie sich die linken Parteien positionieren.

Manche ziehen bereits Parallelen zur Flüchtlingssituation 2015. Sehen Sie die auch?

Die Stimmungslagen sind durchaus identisch. Es gibt wieder eine Krisensituation. Wieder entsteht Unruhe in der Bevölkerung. Und wieder versuchen Rechte, das zu vereinnahmen und zu befeuern. Ihre Parolen sind gleich. Die Versuche, sich als Bürgerrechtsbewegung zu inszenieren, erinnern auch stark an die Situation vor fünf Jahren. Insgesamt ist eine deutliche Pegida-Atmosphäre festzustellen. Allerdings werden diesmal auch kulturell eher linke und grüne Milieus erreicht.

Was können Politik und Gesellschaft dem entgegensetzen?

Wer ideologisch verfestigt ist, kann mit Argumenten kaum noch überzeugt werden. Deshalb sollten wir versuchen, die Ambivalenten zu erreichen. Das ist glücklicherweise die große Mehrheit der Bevölkerung. Vor allem sollten wir sehen, dass nicht mehr Menschen in das Spektrum abdriften und uns auf die wirklich Leidtragenden der Krise konzentrieren, die sich trotzdem an die Regeln halten. Und wir sollten Aufklärungsarbeit leisten und dafür sorgen, dass ein paar Querköpfe auf der Straße nicht die Bilder und die Öffentlichkeit dominieren. Das ist auch eine Frage der Darstellung in den Medien.

Sind die Hygiene-Demonstrant*innen denn offen für Argumente?

Nach meiner Beobachtung in Erfurt am Wochenende nicht. Dort herrschte eine deutliche Anti-Stimmung. Wer eine Frage hatte, wurde ausgelacht und dumm angemacht. Die Stimmung war verbal konfrontativ und die Menschen sehr von sich und ihrer Position überzeugt.

Rund um die Proteste ist die Bewegung „Widerstand 2020“ entstanden, die nach eigenen Angaben zu einer Partei werden möchte. Wie ist die Gruppe einzuschätzen?

Diese populistische Gruppierung ist der Versuch, ein Sammelbecken für die unterschiedlichen Strömungen zu bilden. Ihre Botschaft ist, dass links und rechts keine Rolle spielen und es allein um „die Wahrheit“ gehe, welche auch immer das sein soll. Sie eint das Misstrauen gegen „die da oben“. Bekannt gemacht wurde „Widerstand 2020“ vor allem über rechte Verschwörungskanäle. Ich persönlich halte den Versuch, daraus eine Partei zu gründen, für eher aussichtslos. Dazu ist das Spektrum viel zu diffus und widersprüchlich. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass die AfD die Unzufriedenen wird einsammeln können.

Das interview ist zuerst auf vorwaerts.de erschienen.