Oberbürgermeisterwahl in Tübingen

Kandidatin fordert mit viel SPD im Blut Boris Palmer heraus

Uwe Roth05. Oktober 2022
Sofie Geisel fordert Deutschlands bekanntesten Oberbürgermeister heraus. Die 50-Jährige stammt aus einer SPD-Familie und sieht für sich gute Chancen, am 23. Oktober in Tübingen Nachfolgerin von Boris Palmer zu werden.

Sofie Geisel ist in Berlin fest verankert. Dort fühlt sie sich wohl mit ihrer Familie. Ihr Mann ist Musiker, die Söhne sind 14, 16 und 18 Jahre alt. Seit 2019 gehört sie zur Spitze der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). Außerdem engagiert sie sich in der Evangelischen Kirche. Nun hält sich die studierte Politikwissenschaftlerin seit März meistens in dem knapp 700 Kilometer entfernten Tübingen auf. Sofie Geisel möchte am 23. Oktober in der 90.000 Einwohner-Stadt zur Oberbürgermeisterin gewählt werden. Wenn es nicht gleich im ersten Wahlgang klappen sollte, dann doch zwei Wochen später in der finalen Runde. Die Chancen stehen nicht schlecht.

Ihr Wahlkampfbüro in der Marktgasse 6 liegt zentral in der verwinkelten Altstadt, nahe am historischen Rathaus der Universitätsstadt. Dort residiert Boris Palmer, der grüne Oberbürgermeister, den man bundesweit nicht zuletzt wegen seiner TV-Auftritte bei diversen politischen Gesprächsrunden kennt. Seine lokalen Partei-Freund*innen haben ihn nach längerem Streit wegen seiner politischen Alleingänge zwar nicht exkommuniziert, ihm aber zumindest den Rücken gekehrt.

Familie Geisel steht für Sozialdemokratie

„Residiert“ ist für Sofie Geisel das Stichwort: „16 Jahre Boris Palmer sind genug. Ein Vierteljahrhundert wäre definitiv zu viel“, erklärt sie, warum ein weiterer Wahlsieg Palmers der Stadt nicht guttun würde. Deren Wohl und Wehe dürfe nicht länger von einer einzelnen Person abhängen, die residiert und die man aber nicht in einem Team kennt. Gleichwohl, versichert sie, „ich kenne ihn und schätze ihn sehr“. Doch dass Palmer „nicht ohne taktisches Kalkül“ die Asylpolitik seiner Partei und auch die der SPD attackiere, Asylbewerber*innen für eine Risikogruppe halte, schätze sie überhaupt nicht. „Für so eine Politik stehe ich nicht.“ Die SPD stehe für den sozialen Zusammenhalt, und dafür stehe sie in ihrem Wahlkampf.

Sofie Geisel sagt, sie habe „als Karteileiche“ ihre Kandidatur bekanntgegeben. Davor sei sie etwa 20 Jahre politisch nicht auffällig gewesen. Dabei steckt in ihr SPD-DNA. Der Name Geisel ist im Südwesten parteibekannt: Ihr Vater Alfred war 16 Jahre lang Vizepräsident des Landtags von Baden-Württemberg. Seit sie 15 Jahre alt ist, gehört sie zur Partei, also bereits seit 35 Jahren. Dem Vater hat sie bei seinen Wahlkämpfen geholfen. Den Namen ihres Bruders kennt man dagegen in Nordrhein-Westfalen: Thomas Geisel war von 2014 bis 2020 Oberbürgermeister der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf. Nun arbeitet er als Anwalt und kann seiner Schwester sicher den einen oder anderen Rat geben.

Volles Programm von der ersten Wahlkampf-Minute an

Die Geschwister sind auf der Ostalb in Baden-Württemberg aufgewachsen. Mundartlich ist davon nichts zurückgeblieben. In Tübingen spricht man Neckarschwäbisch, das Alteingesessene nur als Grundlage einer eigenen Mundart nehmen, an der Studierende beim Versuch, die Worte zu verstehen, regelmäßig scheitern. Sofie Geisel versteht das problemlos, ihr Vater ist in Tübingen geboren, doch sie wertet das nicht als Heimvorteil. Sie tut nicht so, als sei sie nie aus der Heimat weggewesen.

Von Beginn ihres Wahlkampfs im Frühjahr an startet die 50-Jährige mit voller Energie durch, um den Abstand zum Bekanntheitsvorsprung des Amtsinhabers Stück um Stück zu verringern. Eine Veranstaltung reiht sie an die nächste, sie geht von Haustür zu Haustür, schätzt persönliche Begegnungen. Daneben produziert sie Podcasts. Und zwischendrin kümmert sie sich meistens von Tübingen aus um ihrem Manager-Job in Berlin. Müdigkeit ist ihr zu keiner Zeit anzumerken.

Funktionierendes SPD-Netzwerk hilft im Wahlkampf

Sie entspannt sich bei ihrer SPD-Familie, sagt sie. Sie wohnt bei SPD-Freunden und könne auf ein funktionierendes SPD-Netzwerk in der Stadt und im Landkreis zugreifen. Das äußere Erscheinungsbild der Partei im Südwesten sei nach eher schlecht gelaufenen Kommunalwahlen vielleicht anders, sagt sie, aber tatsächlich bestehe der politische Einfluss. Tübingens Sozialbürgermeisterin Daniela Harsch ist SPD-Mitglied. Sie SPD-Fraktion hat im Gemeinderat mehr Mitglieder als die CDU. Gleichwohl dominieren Grüne und Tübinger Liste.

Tübingen verbindet man mit der Universität und bekannten Forschungseinrichtungen. Eine gutverdienende Professorenschaft, gut besoldete Verwaltungsbeamt*innen, aber auch Studierende aus zahlungskräftigen Familien haben das Wohnen teuer gemacht. „Man vergisst leicht, dass viele Menschen, die die Stadt am Laufen halten, sich das Leben dort kaum noch leisten können.“ Sofie Geisel denkt dabei an Hausmeister*innen, Reinigungs- und Mensa-Personal, Busfahrer*innen oder die Verkäufer*innen im Einzelhandel. „Bezahlbarer Wohnraum ist in dieser scheinbar reichen Stadt das vordringlichste Thema, auf das ich überall abgesprochen werden“, sagt sie. Wenn sie die Wahl gewonnen habe, gebe es einiges zu tun, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken, gibt sich Sofie Geisel siegessicher.

weiterführender Artikel