Wohnungslosigkeit

Kein trautes Heim

Carl-Friedrich Höck15. September 2016
Ein Obdachloser in Berlin.
Die Zahl der Menschen ohne eigene Wohnung steigt dramatisch. In Nordrhein-Westfalen setzt man auf Prävention im Kampf gegen Wohnungslosigkeit.

Wer über Wohnungslosigkeit spricht, redet oft von den großen Städten”, hat Susanne Hahmann von der Diakonie Michaelshoven beobachtet. „Aber wir haben auch in ländlichen Regionen eine massive Wohnungsnot.“ Hahmann leitet den Bereich „Wohnhilfen Oberberg” der Diakonie im Oberbergischen Kreis – einer eher beschaulichen Gegend im Einzugsbereich von Köln. „Was hier passiert, ist total dramatisch“, sagt sie. Vor ein paar Jahren waren die Notunterkünfte im Kreis fast leergezogen. Die Arbeit der Diakonie trug Früchte; neu geschaffene Beratungsangebote halfen vielen Menschen, drohende Wohnungslosigkeit rechtzeitig abzuwenden. Doch jetzt hat sich die Wohnungsnot laut Hahmann wieder verschärft. Das liege weniger an der Zuwanderung der vergangenen Monate, sagt sie: „Vor allem für alleinstehende Menschen, die auf den Nahverkehr angewiesen sind, gibt es einfach zu wenige passende und bezahlbare Wohnungen.“

335.000 Menschen ohne eigenes Zuhause

Diese Entwicklung ist in ganz Deutschland zu beobachten. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) hat die Zahl der Menschen ohne eigenes Zuhause einen neuen Höchststand erreicht: Von 2012 bis 2014 sei sie um 18 Prozent auf 335.000 Menschen gestiegen, schätzt die BAG W. Bis 2018 erwartet sie einen weiteren Anstieg um 200.000. „Wohnungslosigkeit ist eine Frage von Armut“, stellt die stellvertretende BAG W-Geschäftsführerin Werena Rosenke klar. Sie macht eine verfehlte Wohnungspolitik für das Dilemma verantwortlich: „Kontinuierlich fallen Wohnungen aus der Sozialbindung, ohne dass genügend neue Sozialwohnungen entstehen. Öffentliche Wohnungsbaugesellschaften wurden verkauft. Jetzt hat man vielerorts keine Reserven mehr, um preiswerten Wohnraum zu schaffen.“ Mittlerweile steuern Bund, Länder und Kommunen mit neuen Wohnungsbauprogrammen gegen. Das werde aber kurzfristig nicht reichen, um den steigenden Bedarf zu ­decken, befürchtet Rosenke.
 
Oft ist es ein Geflecht aus materieller Armut und einer persönlichen Lebenskrise, das Menschen in die Obdachlosigkeit führt. Die Erfahrungen der BAG W zeigen: Wer einmal längere Zeit auf der Straße oder in einer Notunterkunft gelebt hat, findet schwer wieder zurück. Im Oberbergischen Kreis setzt man deshalb auf Prävention. Die Diakonie Michaelshoven hat ein Projekt gestartet, mit dem ein Konzept für vorbeugende Maßnahmen in ländlichen Räumen entwickelt werden soll. Als Träger der Wohnungslosenhilfe kooperiert sie mit den Jobcentern, Sozialämtern und Wohnungsämtern im Kreis. Zunächst werden die Beteiligten ausloten, wie die Kommunikation verbessert werden kann. „Wir wollen früher von Wohnungsnotfällen erfahren“, sagt Susanne Hahmann. Die Diakonie hofft auf einen schnellen Zugang zu Daten wie vorliegende Räumungsklagen, um die Betroffenen aktiv aufsuchen und ihnen ein passendes Hilfsangebot machen zu können – etwa Beratung zu einem Antrag auf Mietschuldenübernahme.

NRW ist Vorreiter im Kampf gegen Wohnungslosigkeit

Unterstützt wird das Projekt vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales. Seit 1996 fördert das Land Kommunen, Kreise und freie Träger, die Modellprojekte für den Kampf gegen Wohnungslosigkeit ent­wickeln. Das Ministerium stellt hierfür jährlich 1,12 Millionen Euro zur Verfügung. Das Geld fließt einerseits in die Modellprojekte selbst, aber auch in den Transfer von Erfahrungen – etwa Workshops und Veranstaltungen – sowie wissenschaftliche Untersuchungen und eine genaue Statistik über Wohnungsnotfälle im Land. Es sei eine Schande, dass es im reichen Deutschland noch immer Wohnungslose gibt, sagt Minister Rainer Schmeltzer gegenüber der DEMO. „Im Lauf der letzten 20 Jahre haben wir mit unserem Landesprogramm viele gute Ansätze modellhaft erprobt und den Kommunen und Kreisen landesweit zur Nachahmung empfohlen, wie zum Beispiel die Entwicklung von integrierten Gesamthilfesystemen im ländlichen Raum, Erschließung von alternativem Wohnraum, zum Beispiel in einer ehemaligen Kirche, oder Konzepte zur Wohnraumversorgung von jungen Wohnungslosen unter 25 Jahren.“ Aufgrund des angespannten Wohnungsmarktes sei das Programm nun neu justiert worden, es konzentriere sich nun noch stärker auf den Faktor Prävention.

Auch nach 20 Jahren ist das Projekt noch immer bundesweit einmalig. Werena Rosenke von der BAG W bedauert das. Sie wünscht sich vergleichbare Anstrengungen auch in anderen Bundesländern.