Interview mit Thomas Krüger

Kinderhilfswerk: Nur eine Kindergrundsicherung kann Kinderarmut wirksam bekämpfen

Kai Doering14. Februar 2019
Thomas Krüger vom Kinderhilfswer sagt: „Dafür, dass Kinder aus dieser Armutsfalle herauskommen, gibt es zwei Stellschrauben: zum einen ein stabiles soziales Netz, zum anderen eine gute Bildung.“
Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Der einzige Weg, daran etwas zu ändern, ist die Einführung einer eigenständigen Kindergrundsicherung, meint der Präsident des Kinderhilfswerks, Thomas Krüger. Auch Familien mit guten Einkommen würden davon profitieren.

Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. Woran liegt das?

Armut vererbt sich in Deutschland. Das sieht man daran, dass die Zahl der Kinder, die in Armut leben – offiziell immerhin 2,2 Millionen – unabhängig von wirtschaftlichen Auf- oder Abschwüngen auf einem relativ konstanten Niveau bleibt. Nach unseren weiter gefassten Berechnungen sind sogar rund 2,7 Millionen Kinder von Armut betroffen, hinzu kommen viele der geflüchteten Kinder und Jugendlichen sowie eine nicht in den Statistiken auftauchende Dunkelziffer von in verdeckter Armut lebenden Familien. Und wir haben noch rund zwei Millionen Kinder, die in Haushalten mit sehr niedrigem Einkommen nur knapp oberhalb der Armutsgrenze leben. Dafür, dass Kinder aus dieser Armutsfalle herauskommen, gibt es zwei Stellschrauben: zum einen ein stabiles soziales Netz, zum anderen eine gute Bildung.

Was bedeutet Armut für das alltägliche Leben der Kinder?

Materiell wirkt sich Armut auf die Freizeit der Kinder aus. Nur die wenigsten können an sportlichen oder kulturellen Aktivitäten teilnehmen – zumindest an keinen, die Geld kosten. Auch an Klassenfahrten können sie oft nicht teilnehmen, weil die Eltern den Eigenbeitrag nicht bezahlen können. Soziale Teilhabe wird so häufig unmöglich, was den Aspekt des Abgehängtseins verstärkt. Dazu kommen häufig auch ungesunde Ernährung und fehlende Gesundheitsprävention.

Anfang des Jahres hat die Bundesregierung das Starke-Familien-Gesetz auf den Weg gebracht. Kann es Kinderarmut wirksam bekämpfen?

Zunächst mal finde ich es mutig, dass zwei Ressorts – das Bundesfamilienministerium unter Franziska Giffey und das Bundessozialministerium unter Hubertus Heil – einen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik vollziehen. Das Starke-Familien-Gesetz ist ein sehr wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Erstmals wird etwa die Höhe des Kinderzuschlags in Kombination mit dem Kindergeld an die Höhe des sächlichen Existenzminimums gekoppelt. Negativ ist, dass die Leistungen nach wie vor an unterschiedlichen Stellen beantragt werden müssen. Der derzeitige bürokratische Aufwand führt bereits dazu, dass Leistungen wie der Kinderzuschlag nur von 30 Prozent der Familien, denen sie eigentlich zustehen, in Anspruch genommen werden. Da hält das Deutsche Kinderhilfswerk deutlichere Verbesserungen möglich als sie das Starke-Familien-Gesetz aktuell vorsieht. Es ist aber auch klar, dass auf Dauer nur eine eigenständige Kindergrundsicherung Kinderarmut wirksam bekämpfen kann.

Warum?

Weil das bestehende System mit Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld und anderen Sozialleistungen zu intransparent, zu bürokratisch und letztlich ungerecht ist. Bei Eltern, die Hartz IV erhalten, wird das Kindergeld auf den Regelsatz angerechnet. Sie erhalten es de facto also nicht und profitieren auch nicht, wenn das Kindergeld erhöht wird. Zu wenige Familien nehmen zudem den Kinderzuschlag in Anspruch, weil er zu wenig bekannt und zu kompliziert ist. Während die Steuerfreibeträge automatisch greifen, muss der Kinderzuschlag aufwändig beantragt werden. Gut verdienende Eltern, die den Kinderfreibetrag in Anspruch nehmen, erhalten damit bis zu 100 Euro pro Kind mehr als diejenigen, die Kindergeld beziehen.

Was würde eine Kindergrundsicherung daran ändern?

Eine Kindergrundsicherung stellt das System vom Kopf auf die Füße. Das Modell des Bündnisses Kindergrundsicherung, in dem das Deutsche Kinderhilfswerk Mitglied ist, orientiert sich am soziokulturellen Existenzminimum, das regelmäßig über den Existenzminimumbericht der Bundesregierung angepasst wird. Dieser Betrag soll dann dem Grenzsteuersatz unterliegen, der sich für das elterliche Einkommen ohne Kindergrundsicherung ergibt. Das heißt dann, je niedriger das Familieneinkommen, desto höher fällt die Kindergrundsicherung aus. Der Mindestbetrag würde bei etwa 300 Euro liegen, was etwa der maximalen Entlastung durch den heutigen Kinderfreibetrag entspricht. Familien ohne Einkommen, erhalten den Höchstbetrag. Nach heutigen Berechnungen wären das 628 Euro. Das heißt, dass vor allem die unteren, aber auch die mittleren und guten Einkommen von einer Kindergrundsicherung profitieren würden, die sehr gutverdienenden würden nicht schlechter gestellt als heute.

Das klingt recht teuer. Mit welchen Kosten rechnen Sie?

Das Bündnis Kindergrundsicherung hat ausgerechnet, dass die Gesamtkosten für unser Modell rund 109 Milliarden Euro pro Jahr betragen würden. Das ist natürlich ein erheblicher Betrag. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Möglichkeiten für die Gegenfinanzierung. Da ist zum einen der Wegfall der bisherigen Familienleistungen, da diese ja in der Kindergrundsicherung aufgehen. Das entspricht einer Summe von fast 50 Milliarden Euro. Dazu kommt der Rückfluss durch Steuermehreinnahmen. Hier rechnen wir mit 25 bis 27 Milliarden Euro. Und der Wegfall des Ehegattensplittings würde weitere elfeinhalb Milliarden Euro sparen. Alles in allem sind das etwa 87 Milliarden Euro. Es bliebe also eine Finanzierungslücke von 22 Milliarden Euro. Für das Ziel, zweieinhalb Millionen Kinder aus der Armut zu holen, ist das gut investiertes Geld.

Dieser Artikel erschien zuerst auf  vorwärts.de und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des vorwärts.