Serie friedliche Revolution

Die letzten Kommunalwahlen in der DDR: Katalysator für die Wende 1989

Karin Billanitsch07. Mai 2019
Albrecht Schröter (3.v.i.) zeigt ein Original-Plakat, das die Wahlergebnisse der Kommunalwahl in Jena 1989 dokumentiert. Neben ihm sitzt Professorin Gabriele Münkel. Es geht bei einer Veranstaltung der SPD-Fraktion um „Kommunen als Orte der Demokratie – Der Anfang vom Ende der DDR: Die letzten Kommunalwahlen der DDR und die Aufdeckung der Wahlfälschung“.
Am 7. Mai 1989 fanden die letzten Kommunalwahlen in der DDR nach Einheitslisten der Nationalen Front statt. Mutige Bürger deckten den Wahlbetrug der SED-Führung auf. Das beschleunigte die Revolution.

Auf den Tag genau vor 30 Jahren fand die letzte Kommunalwahl in der DDR nach Einheitslisten der Nationalen Front statt. Zum ersten Mal konnte eine Wahlfälschung in der DDR nachgewiesen werden. Ein Datum, das als eine der wichtigsten Wegmarken des Revolutionsjahres 1989 gilt. Es beschleunigte das Ende der DDR.

Für die SPD-Fraktion ist das Jubiläum am Vorabend des Jahrestages Anlass, Zeitzeugen einzuladen und mit Historikern über die Bedeutung der Ereignisse zu diskutieren. Kommunen seien Keimzelle der Demokratie, heißt es auf der Veranstaltung. „Kommune ist immer ein Ort von Freiheit und Demokratie: Was soll kommunale Selbstverwaltung eigentlich bedeuten, wenn nicht das?“ fragt der SPD-Abgeordnete Bernhard Daldrup, der das Gespräch mitorganisiert hat.

Amtliche Ergebnisse waren eine dreiste Lüge

Was war damals passiert? Im DDR-Fernsehen verkündete Politbüro-Mitglied und Vorsitzender der Wahlkommission Egon Krenz am späten Abend das amtliche Ergebnis: 98,85 Prozent der Wahlberechtigten hätten mit Ja für die Einheitsliste der nationalen Front gestimmt, 1,15 Prozent Nein-Stimmen. Doch das entpuppte sich als dreiste Lüge: Mutige Bürger beobachteten landesweit die Auszählung und wussten: Es hatte deutlich mehr Nein-Stimmen gegeben, in Wahrheit lag ihr Anteil zwischen sieben und zehn Prozent. „Das kann man natürlich nicht ganz genau beziffern, da es ja keine lückenlose Wahlbeobachtung gegeben hat“, erläutert die Geschichtsprofessorin Daniela Münkel. Aber eines war klar: In fast allen Wahlkreisen wurden mehr Nein-Stimmen abgegeben, als vom DDR-Regime bekannt gegeben worden war.

Beispiel Berlin-Weißensee: Amtlich verkündet wurden 1.011 Nein-Stimmen bei 42.007 gültigen Stimmen für den Wahlvorschlag; In Wirklichkeit habe es in 66 von 67 Wahllokalen 2261 Nein-Stimmen und 25.797 Ja-Stimmen gegeben. Die Empörung und die Wut der Bürgerinnen und Bürger über den Wahlbetrug war groß.

Hochgerechnet neun Prozent Nein-Stimmen in Jena

Einer, der damals dabei war und die öffentliche Stimmauszählung mitverfolgte, war Albrecht Schröter, Theologe sowie langjähriger ehemaliger Bürgermeister von Jena und Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“. „Im März 1989 gründeten wir, eine kleine Gruppe von Menschen, in ihrer Gemeinde im Jenaer Lutherhaus, einen Arbeitskreis ‚Erneuerung der DDR’. Er nahm sich als erstes vor, die Wahlen zu beobachten.“ Für die DDR sei das ein wichtiger Termin im 40. Jahr ihres Bestehens gewesen. „Die DDR stand ja damals im Überbietungszwang: Es musste alles noch besser, noch optimaler sein.“ Am 7. Mai gingen die Mitglieder der Gruppe und viele andere zu den Wahllokalen und durften bei der Auszählung zuhören. Das war vom DDR-Wahlgesetz erlaubt. Der Kreis hatte mit 15, 16 Menschen gerechnet, die ins Gemeindehaus kommen würden – genug um ein paar Tendenzen zu haben. „Es kamen dann 50. Von 152 Wahllokalen hatten wir am Ende 58 Ergebnisse. Hochgerechnet kamen wir auf rund neun Prozent Nein-Stimmen“, führt Schröter aus.

„Es war ein toller Abend, eine gute Stimmung, als nacheinander die Boten zurückkamen, bis schließlich Egon Krenz das Ergebnis verkündete im Fernsehen und wir alle dachten, wir sind im falschen Film.“ Es habe sich Erschütterung breit gemacht. Es sei ja klar gewesen, die DDR war in der Krise. „Aber dass man so dreist lügt, das haben wir nicht für möglich gehalten.“ Überall im Land wurden die Ergebnisse kontrolliert, ohne dass man sich abgesprochen hatte.

Anzeichen für die Krise der DDR

Schon vor der Kommunalwahl im Mai gab es Anzeichen dafür, dass die DDR bröckelte. Für den früheren Pfarrer Schröter war die Situation der vielen Ausreisewilligen das Momentum, sich politisch zu engagieren. „Ich habe manchen das Abendmahl gegeben und wusste, am nächsten Tag reisen sie im Zug nach Ungarn und gehen in den Westen. Dabei hätten wir sie sehr gebraucht.“ In der DDR seien zwischen 1984 und 1989 140.000 Menschen durch Flucht oder Ausreiseantrag in den Westen gegangen, „‚entwestet’ wie wir das damals humorvoll gesagt haben“, erzählt Schröter. Christoph Matschie, MdB, der damals auch in Jena lebte, spricht von einem „erheblichen Moment des Mutmachens“, dass man plötzlich festgestellt habe, dass es tausende von Menschen sind, die Nein sagen, und das nicht mehr wollen. Er wählte damals zum ersten Mal, mit „Nein“. Vorher blieb er aus Protest den Wahlen fern.

Die Bedeutung der Kommunalwahl für die weiteren Ereignisse des Jahres 1989 ordnet die Historikerin Daniela Münkel ein: „Trotz des ersten großen Erfolges der Oppositionsgruppen war die Bevölkerung um Mai 1989 noch wenig mobilisiert, was nicht zuletzt auch die Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen in den Wochen und Monaten nach der Wahl zeigen“, merkt Münkel an. Die erfolgreiche Wahlkontrolle erwirkte aber nach Münkels Ansicht eine bessere Vernetzung der kritischen Bürgergruppen und habe den Akteuren neue Ziele und Selbstbewusstsein gegeben. Münkel: „Die Wahl entwickelte sich zum Symbol der fehlenden Legitimation der SED-Herrschaft. Der 7. Mai war nicht der Beginn der Revolution, aber er beschleunigte die Entwicklung der nächsten Monate.“

Immer mehr Menschen boten der SED die Stirn

„Es gab ein großes Bedürfnis, sich darüber auszutauschen, wie es weitergehen soll“, sagt die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann. Eine Plattform dafür bot im September der Aufruf des Neuen Forums „Die Zeit ist reif – Aufbruch 89“. Binnen kurzer Zeit unterschrieben zehntausende Bürgerinnen und Bürger. Immer mehr Menschen waren bereit, der SED die Stirn zu bieten. Die Grundlage für die spätere Massenprotestbewegung und das Aufbegehren im Herbst 1989 waren gelegt.

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