Buch: „Was mir wichtig ist“

Martin Schulz: Wie Würselen mich und meine Politik geprägt hat

Martin Schulz17. Juli 2017
Martin Schulz formuliert in seinem neuen Buch seine Positionen in einer sehr persönlichen Weise.
Würselen spielt im Leben von Martin Schulz eine zentrale Rolle. Elf Jahre war er dort Bürgermeister. Wie diese Zeit seine Art, Politik zu machen, geprägt hat, beschreibt Schulz in seinem Buch „Was mir wichtig ist“. Schulz legt in elf Kapiteln dar, was er gegenwärtig richtig findet und was falsch und was er für notwendig hält, um Deutschland erfolgreich in die Zukunft zu führen. Wir veröffentlichen hier einen Auszug.

Das Gefühl, zu Hause zu sein, eine Heimat zu haben, ist eines der wichtigsten Dinge in unserem Leben. Für mich persönlich ist es unvorstellbar, dieses Gefühl zu verlieren. Denn zu spüren, wo meine Heimat ist, gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Nur an einem Ort kann ich richtig zur Ruhe kommen. Nur an einem Ort kann ich zu hundert Prozent ich selbst sein. Nur an einen Ort kehren meine Gedanken immer und immer wieder zurück.

Würselen: Hier komme ich her

Für mich ist Würselen der zentrale Fixpunkt in meinem Leben geblieben, als ich in Brüssel im Europäischen Parlament tätig war und auch jetzt, wo ich in Berlin eine neue Rolle eingenommen habe. Hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich die Schule besucht. Hier habe ich angefangen, Fußball zu spielen, habe bei der Rhenania versucht, es bis zu den Profis zu schaffen. Hier habe ich meine eigene Buchhandlung eröffnet und zwölf Jahre lang geführt. Hier habe ich bei der Jugendorganisation der SPD, den Jungsozialisten oder „Jusos“, die ersten Schritte in der Politik unternommen. Hier wurde ich 1987 zum Bürgermeister gewählt und übte dieses Amt fast elf Jahre lang aus. Ich habe meine Familie in Würselen gegründet und immer noch viele enge Freunde hier.

In "Was mir wichtig ist" gibt Martin Schulz Auskunft über seine Pläne, seine Motive, seine Biographie.

So wie jeden Menschen seine Herkunft prägt, so bin auch ich von dieser Region geprägt worden. Meine Eltern haben mich und meine vier Geschwister hier großgezogen. Sie haben hier den Krieg durchlebt. Mein Bruder Erwin war gerade einen Tag alt, als er mit meiner Mutter und meinem Großvater im Keller unseres Hauses das Bombardement der Amerikaner überstehen musste. Mir geht es wie den meisten Menschen: Unsere Heimat hat eine Fülle von Geschichten zu erzählen, und ich kenne viele davon. Denn Würselen ist für mich nicht nur ein Ort, es ist mein Netz aus Familien- und Freundesbanden, aus Erinnerungen und Beziehungen.

Respekt vor den Menschen und ihren Schicksalen

Ich habe in dieser aus Berliner Sicht kleinen Stadt so viel gelernt. Am meisten vielleicht während meiner Zeit als Bürgermeister. Wer einmal Bürgermeister war, egal, ob von einer Gemeinde, einer kleinen Stadt oder einer Millionenmetropole, der weiß, dass alle Probleme irgendwann im Rathaus landen. (...)

Ich denke heute noch oft an diese Situationen. Aus ihnen sind viele Leitbilder meiner politischen Philosophie entstanden: An erster Stelle steht hier der Respekt vor den Menschen und ihren Schicksalen. Die Menschen, die zu mir ins Bürgermeisterbüro kamen und mir erzählten, sie seien schon überall gewesen und niemand hätte ihnen helfen können: Sie waren häufig an anderer Stelle wie Nummern behandelt worden. Oft weitergeschickt, der „Fall“ weitergeleitet, dann zum Warten verdammt. Nie hatte jemand richtig zugehört. Deshalb tat ich zuerst immer das: Ich hörte zu, versuchte, das Problem zu verstehen. Für mich muss das Zuhören immer der erste Schritt sein.

Politik, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert

Aus diesem Grund habe ich auch die Erarbeitung meines Wahlprogramms als Bundeskanzler so angelegt: Ich reise durch Deutschland, um zu hören, was die Menschen bewegt. Denn nur, wenn ich konkret erfahre, wo die Chancen und Risiken liegen, wenn ich weiß, wie sich – oft gutgemeinte – Gesetze im Alltag möglicherweise gegenteilig auswirken, nur dann kann ich Politik machen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und die die hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten, ins Zentrum rückt.

Ich wurde von einigen Medien und von anderen Parteien in Deutschland für dieses Vorgehen kritisiert. Ich hätte ja an meinem ersten Tag keine Inhalte präsentiert. Man erwartete wohl, dass ich über Nacht in meinem stillen Kämmerlein eine Art Masterplan für Deutschland entworfen hätte. Das habe ich nicht getan, und zwar bewusst. Ich entwickle mein Programm aus Geschichten, die ich in der ganzen Republik höre.

Politik von der anderen Seite

(...) Am Ende zählt bei unserem politischen Handeln das, was bei den Menschen ankommt. Ich wünsche mir, dass dieses Denken immer im Vordergrund steht, wenn wir über eine Maßnahme beraten. Auch dass wir wegkommen von dem Denken in Milliarden, das heute Usus geworden ist. Jeden Tag müssen in Berlin wichtige Entscheidungen über Milliarden getroffen werden. In den letzten Monaten schlug die Union beispielsweise folgende Maßnahmen vor: zwanzig Milliarden Euro oder mehr für die Aufstockung der Rüstungsausgaben mit gleichzeitiger Kürzung bei den Sozialausgaben. Fünfzehn Milliarden Euro an Steuererleichterungen und die Abschmelzung des Solidaritätszuschlags, durch die Bund und Länder noch einmal über fünfzehn Milliarden an Einnahmen verlieren werden.

Ich halte diese Vorschläge in dieser Form aus einer Reihe von Gründen für falsch. Aber sie illustrieren am besten, was ich hier unterstreichen möchte: Wenn wir Politik machen, dann sollten wir nicht nur in Milliarden denken. Wir sollten es von der anderen Seite betrachten, von der Seite der Bürgerinnen und Bürger. (...) Was man im Rathaus lernt, ist, dass Politik den Menschen direkt zugutekommen muss. Steuergeschenke mit der Gießkanne, von denen am Ende nur die profitieren, die eh am meisten haben, wird es mit mir nicht geben. Eher Maßnahmen, die unsere Gemeinschaft stark machen. Im Grunde sind es Maßnahmen, die zum Beispiel jemanden in Würselen direkt erreichen würden. Oder in einem anderen Ort in Deutschland, den kaum jemand auf der Karte finden würde, außer den Menschen, die dort ihre Heimat haben.

Martin Schulz: Was mir wichtig ist, Rowohlt Berlin 2017, 192 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3737100304