Interview mit „Dorfpapst“ Gerhard Henkel

„Mehr Respekt für das Dorf“

Karin Billanitsch06. April 2017
Autor und Wissenschaftler Gerhard Henkel fordert mehr eigenen finanziellen Spielraum für die Dörfer.
Mehr Wertschätzung von Bund und Ländern statt fortgesetzter Entmündigung fordert Gerhard Henkel.

DEMO: Herr Henkel, Sie prangern an: Durch Gemeindeauflösungen wurden die demokratische Kultur des Dorfes beseitigt und 300.000 ehrenamtliche Politiker quasi entlassen. Gibt es einen Weg zurück?

Im Prinzip würde ich es sehr wünschen, wenn wir in den Zustand vor den Gebietsreformen zurückgehen könnten. Zunächst möchte ich sagen, was die Gebietsreform aus meiner Sicht bewirkt hat: Solche Reformen sind zum ersten Mal in den 30er und frühen 40er Jahren nach dem Zentrale-Orte-Konzept erprobt worden. Das ZOK trägt auch den Geist dieser Jahre. Es wurde dann zu ­einem Grundprinzip der Raumordnung in den 60er Jahren und gilt eigentlich durchgehend bis heute. Die ­Gebietsreformen haben die demokratische Kultur an der Basis des Staates beseitigt: In mehr als 20.000 (von 35.000 Dörfern) wurde durch Zwangseingemeindung die Ortsgemeinde aufgelöst. Signal: Wir brauchen euer demokratisches Mitwirken nicht mehr!

In Brandenburg und Thüringen gibt es aktuell Gebietsreformen. Werden die Fehler wiederholt?

Ja. In Thüringen läuft die zweite Welle der Gebietsreformen. Ich bin häufig dort und treffe die Menschen. Sie sind wütend und klagen: „Wir haben ja jetzt schon kaum Mitwirkung.“ Sie befürchten, dann wird der nächste Bürgermeister statt acht 25 Kilometer entfernt und aus ihrem Dorf niemand mehr im Großgemeindeparlament sein. Sie fühlen sich abgehängt.

Lässt sich hier noch etwas stoppen?

Ich gebe die Hoffnung nicht auf. In Thüringen hat man zum Beispiel das Verfahren ausgesetzt. In Brandenburg gibt es ganz viele Petitionen dagegen. Was daraus wird, wissen wir im Moment nicht.

Ganz ohne Vorgaben und Leitbilder geht es nicht, oder?

Natürlich ist es immer wichtig, dass man Leitbilder vorgibt. Flächenverbrauch eindämmen, die Kulturlandschaft erhalten, das sind alles legitime Leitbilder. Aber man darf sie nicht, wie in NRW, einseitig dem Land aufbürden, sondern man muss flächendeckend vorgehen. In der Großstadt muss man dann etwa auch Flächen schonen. Man muss auch Anreize geben, zum Beispiel für die Innenraumentwicklung dort, wo Leerstand ist.

Wie kann man die Bürger dazu bewegen, sich trotzdem für ihr Dorf verantwortlich zu fühlen? In Ihrem Buch „Rettet das Dorf!“ erwähnen Sie zum Beispiel Bürgervereine.

Das ist ja ein Reflex auf die Entmündigung des Dorfes. Die Vereine, die es gab, waren vor allem mit sich selbst beschäftigt, aber nicht mit dem Ganzheitlichen. Und der eine Vertreter, der im Großgemeinderat sitzt, muss jonglieren, dass er die Interessen der Großgemeinde und des eigenen Dorfes irgendwie in Vereinbarung bringen kann. In vielen Dörfern sind daher Bürgervereine entstanden, die bewusst auf das Dorfganze ausgerichtet sind. Die Schule steht leer, der Laden schließt oder Dorfjubiläum, das sind die allgemeinen Themen, um die sich diese Vereine kümmern.

Finden Sie diesen Weg zukunftsweisend? Oder handelt es sich nur um ein Provisorium mangels besserer Alternativen?

Die Bürgervereine befassen sich immer wieder mit Themen beschäftigen, die sonst niemand anpackt und die oft Neuland sind. Es müssen sich zunächst zwei, drei Menschen finden, die sich einer konkreten Aufgabe stellen und dann einen Verein gründen. Dann müssen Mitstreiter gefunden und Kapital eingeworben werden. Das Projekt Dorfjubiläum zum Beispiel – das bekommen sie noch gut hin mit einer Festschrift und einer Feier. Aber dann steht plötzlich ein von der Schließung bedrohter Laden oder Gasthof an. Da gibt es schon größere Probleme: Wie sind die Fördergelder? Wo kann ein Antrag gestellt werden? Wer unterstützt dabei? Mit solchen Fragen werden die Engagierten in den Vereinen oft allein gelassen.

Die zuständige Verwaltung der Gemeinde, zu der das eingemeindete Dorf gehört, käme mir als Ansprechpartner in den Sinn.

Wenn Sie auf die Ebene der Kommunen gehen, dann sind die Verwaltungen oft mit sich selbst beschäftigt. Außerdem klagen auch die Bürgermeister, dass sie weder ausreichende Mittel noch Spielräume für das, was sie eigentlich tun wollen, haben – etwa solche Gruppen zu unterstützen. Stattdessen bekommen sie Hürden vorgesetzt: Antragshürden und Bewilligungshürden. Komplizierte Formulare oder Statistiken müssen ausgefüllt werden, um an die Förderung heranzukommen. Erschwerend kommt hinzu, dass  Eigenanteile aufzubringen sind. So fühlen sich die kommunalen Politiker vor Ort von den Ländern und vom Bund zunehmend entmündigt. Dazu kommen Planungsvorgaben der Raumordnung und juristische Streitigkeiten, die die Kommunen erschöpfen, weil sie am kürzeren Hebel sitzen. Die Kommunen leiden unter der Bevormundung von Bund und Ländern.

Die Dörfer sind also auf sich allein gestellt?

Der Bürgermeister kann in den meisten Fällen nicht helfen. Es ist ja nicht nur ein Dorf, in einer Großgemeinde sind es möglicherweise acht oder zehn Dörfer, die den letzten Gasthof, die letzte Kneipe oder die leerstehende Schule aktivieren wollen. Den Dörfern steht das Wasser bis zum Halse. Dann verschwindet noch die Kirche, die Volksbank oder Sparkasse schließt – und alle schauen vergeblich auf den Bürgermeister. Wir haben also doppelte Baustellen: Bei den bestehenden Kommunen, aber auch zusätzlich bei den eingemeindeten Dörfern, wo die alte Kraftmitte mit Gemeinderat und Bürgermeister fehlt.

Wie könnte die finanzielle Ausstattung der Kommunen verbessert werden?

Es muss auf jeden Fall mehr werden, und die Freiräume der Gestaltung müssen größer werden. Ich kann Ihnen nicht sagen, auf welches Niveau die finanzielle Ausstattung steigen müsste, aber es kommt zu wenig bei den Kommunen an freien Mitteln an. Es wird in den Ministerien an zu vielen Töpfen für Modellförderungen gebastelt, mit denen man helfen und glänzen möchte. Aber die Masse der Dörfer und Kommunen erreichen sie nicht. Die FAZ sprach kürzlich am 25.3.2017 in seinem Leitartikel auf S. 1 klar und sarkastisch von "sporadischen Fütterungen durch Bund und Länder" nach dem Prinzip "Zufall", mit denen weder die kommunale Selbstverantwortung gestärkt noch die Landmisere beseitigt wird.

Warum engagieren sich die Menschen nach einer Eingemeindung weniger im Ehrenamt?

Es ist das Signal, das damit gegeben wird: Wir brauchen Eure Mitarbeit in den Dörfern nicht mehr. Das ist die Konsequenz der Gebietsreform. Das haben die Menschen verstanden. Sie fühlen sich dann als mitdenkender und mithandelnder Bürger nicht mehr gefragt und wenden sich von den lokalen und kommunalen Aufgaben ab.

Was könnte die Situation der Dörfer verbessern?

Der Staat sollte dafür sorgen, dass sowohl die bestehenden Ortsgemeinden als auch die eingemeindeten Dörfer gefördert werden, damit sie lebendig und zukunftsfähig bleiben. Es gehen derzeit aber immer weniger (gute) Leute in die Kommunalpolitik, weil sie frustriert sind von der fortgesetzten Entmündigung. Dabei sind die Aufgaben keineswegs geringer geworden. Heute befasst sich die Kommune hauptsächlich mit sozialen Fragen und der schrumpfenden Infrastruktur. Nach einem Leitbild des Familienministeriums soll sich das Dorf als „Sorgende Gemeinschaft“ entwickeln. Wer soll das in die Hand nehmen? Die Kommunen müssen generell gestärkt werden, damit man alle diese wichtigen Aufgaben bewältigen kann. Sie brauchen finanziell mehr eigenen Spielraum. Eine außergewöhnliche Idee wäre es, jedem deutschen Dorf unbürokratisch 10.000 Euro zu geben. Das würde etwas auslösen: Die Menschen würden sich ernst genommen fühlen und das Geld mit ihrer lokalen Kompetenz sinnvoll verwenden.

Ihr Appell an die Politik?

Das Dorf ist so viel wert und leistet so viel für die Gesamtgesellschaft, dass es verdient, wie die Großstadt vom Staat respektiert und gefördert zu werden.