Studie der Böll-Stiftung

Die Mehrheit der Kommunalpolitiker*innen wurde bedroht oder beleidigt

Carl-Friedrich Höck08. Dezember 2022
Ob online oder offline: Anfeindungen erreichen Kommunalpolitiker*innen auf vielen Wegen.
Knapp zwei von drei Amts- oder Mandatsträger*innen in der Kommunalpolitik sehen sich Anfeindungen ausgesetzt. Manche ändern deshalb ihr Verhalten. Das hat Auswirkungen auf die politische Repräsentation, so eine Studie der Böll-Stiftung.

Die Rolle der Kassandra lehnt Andreas Blätte ab. „Wir zeichnen kein Untergangsszenario“, sagt der Politik-Professor von der Universität Duisburg-Essen. Dennoch beunruhigt es, was Blätte zu berichten hat, als er am Donnerstagmorgen die Ergebnisse einer Studie im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung vorstellt.

Sie trägt den Titel „Vielfältige Repräsentation unter Druck: Anfeindungen und Aggressionen in der Kommunalpolitik“. Hierfür wurden Kommunalpolitiker*innen aus 77 Großstädten nach ihren Erfahrungen mit Beleidigungen, Bedrohungen oder tätlichen Angriffen befragt. Kontaktiert wurden Oberbürgermeister*innen und Dezernent*innen, aber auch einfache Ratsmitglieder. Über alle Parteigrenzen hinweg erhielten die Forscher*innen ausgefüllte Fragebögen zurück. Insgesamt 2.166 Amts- und Mandatsträger*innen beteiligten sich an der Umfrage.

60 Prozent sind von Anfeindungen betroffen

Knapp 60 Prozent gaben an, bereits Beleidigungen, Bedrohungen oder Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein. Wesentliche Unterschiede nach Geschlecht, Migrationshintergrund oder Schichtzugehörigkeit konnten hierbei nicht festgestellt werden. Und es handele sich auch nicht um ein typisch ostdeutsches Phänomen, erklärt Blätte. Zwar seien die Anfeindungswerte in Dresden und Erfurt besonders hoch, ansonsten befänden sich aber nur westdeutsche Städte unter den „Top 10“.

Trotz der hohen Werte meint Blätte: „Die Demokratie ist resilient“. Denn mehr als 90 Prozent der Amts- und Mandatsträger dächten nicht darüber nach, sich aus der Politik zurückzuziehen. Die andere Seite: 4,7 Prozent tun das durchaus. „Das ist ein alarmierender Befund“, kommentiert der Forscher.

Kommunale verändern ihr Verhalten – das schadet der Demokratie

In den vergangenen Jahren sind bereits ähnliche Studien erschienen. Das Besondere an dem Projekt, das die grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung beauftragt hat: Die Forscher*innen wollten herausfinden, ob und wie die Aggressionen die politische Repräsentation in der Demokratie beeinflussen. 32 Prozent derjenigen, die schon einmal bedroht wurden, haben ihr Verhalten nach eigener Aussage verändert. Und selbst von den Nicht-Betroffenen lässt sich jede*r Vierte beeinflussen von der Sorge, zur Zielscheibe des Hasses zu werden.

Das kann auf unterschiedlichen Arten geschehen: Kommunalpolitiker*innen werden misstrauischer (54 Prozent), äußern sich seltener zu bestimmten Themen (33 Prozent), verzichten darauf, soziale Medien zu nutzen (28 Prozent) oder meiden bestimmte Orte oder Veranstaltungen (16 Prozent). Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen reagieren unterschiedlich auf Anfeindungen. „Frauen geben deutlich häufiger an, dass sie ihr Verhalten ändern“, konstatiert Blätte. Dasselbe trifft laut der Studie auf Menschen aus einkommensschwächeren Schichten oder mit Migrationshintergrund zu.

Die Hilfe muss zur Zielgruppe passen

Daraus schließt Blätte: Es brauche zielgruppenspezifische Unterstützungsstrukturen. Auch unterscheide sich die Situation von Stadt zu Stadt. Beratungsangebote müssten deshalb auf die jeweilige kommunale Lage eingehen. Stefanie John von der Heinrich-Böll-Stiftung rät dazu, sich über die politischen Farben hinweg noch stärker auszutauschen: „Seht es nicht nur als ein Parteienproblem.“

Eine Besonderheit gibt es allerdings: Von der AfD haben sich nur knapp 20 Prozent der angefragten Politiker*innen an der Umfrage beteiligt. Das ist die mit Abstand geringste Rücklaufquote. Gleichzeitig gaben überdurchschnittlich viele AfD-Leute an, von Anfeindungen betroffen zu sein.

Womöglich ist die Statistik hier verzerrt, weil sich vor allem diejenigen AfD-Politiker*innen an der Umfrage beteiligt haben, die auf ihre eigene Bedrohungslage aufmerksam machen wollten. Eine andere Erklärung könnten laut Blätte Radikalisierungsdynamiken sein. Mit dem Einzug der AfD in die Kommunalparlamente verschärfe sich der Ton. Die Radikalisierung der einen Seite führe zu einer Gegenradikalisierung auf der anderen. Das führe dazu, dass AfD-Verordnete selbst zum Ziel von Angriffen werden. „Man muss die Diskussion führen, ob im demokratischen Rechtsstaat auch Intolerante zu tolerieren sind“, sagt Blätte. Derzeit werde diese Toleranz verfehlt.

 

Mehr Informationen:
Die Studie ist auf der Website der Heinrich-Böll-Stiftung als PDF anrufbar und kann auch in gedruckter Form kostenlos bestellt werden.

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