Buchrezension

„Migrationsgeschichten aus dem deutschen Bundestag“

Paul Starzmann02. Dezember 2016
Im deutschen Bundestag haben sechs Prozent der Abgeordneten einen Migrationshintergrund – im Schnitt der Bevölkerung sind es mehr als 20 Prozent.
Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, spiegelt sich auch im Bundestag wieder. In einem neuen Buch erzählen Abgeordnete mit Migrationshintergrund ihre Geschichten: von politischen Erfolgen bis hin zum alltäglichen Rassismus.

Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund sind in der deutschen Politik deutlich unterrepräsentiert. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gibt es hierzulande rund 17 Millionen Menschen mit familiären Wurzeln im Ausland – das sind circa 21 Prozent der Bevölkerung. Dagegen haben aktuell gerade mal 37 Mitglieder des Deutschen Bundestages einen Migrationshintergrund, also nur rund sechs Prozent der Abgeordneten.

„Politik ohne Grenzen“

In dem neuen Buch „Politik ohne Grenzen“, herausgegeben vom Grünen-Politiker Özcan Mutlu, erzählen einige von ihnen ihre Lebensgeschichten: über die Anfänge ihres politischen Engagements und die oft steinigen Wege in die Politik bis hin zu ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag. Persönliche Erfolgsgeschichten sind dabei, aber auch Erzählungen über schmerzliche Erfahrungen mit Ablehnung, Ausgrenzung und Diskriminierung, wie sie weniger prominente Menschen nichtdeutscher Herkunft hierzulande allzu oft erleben müssen.

Der SPD-Politiker Josip Juratovic erzählt, dass er auch in der eigenen Partei immer wieder mit Vorbehalten zu kämpfen gehabt habe: „Mit Sicherheit waren meine Herkunft aus dem Arbeitermilieu und mein Migrationshintergrund Hindernisse für die Wahlkreisnominierung.“ Doch davon ließ sich Juratovic nicht beirren, er zog 2005 über die Landesliste Baden-Württemberg in den Bundestag ein. Heute sei er der „der einzige ehemalige Fließbandarbeiter“ im Parlament. Als Integrationsbeauftragten der SPD-Fraktion stört ihn vor allem, wie verächtlich in Deutschland oft über Einwanderer gesprochen werde: „Es wird immer nur über die 10 Prozent gesprochen, bei denen irgendetwas schief gelaufen ist, nicht über die 90 Prozent, bei denen es keinerlei Probleme gegeben hat.“

Diskriminierung durch die Sicherheitsbehörden

Erfahrung mit Vorurteilen und Klischees hat auch Niema Movassat aus dem nordrhein-westfälischen Oberhausen, seit 2009 Abgeordneter der Partei Die Linke. Für die selbsternannten „besorgten Bürger“ bleibe er als Sohn eines Iraners immer „einer, der hier nicht hingehört“, schreibt er. Auch für Staatsbedienstete wie manche Polizeibeamte gelte dies: Es sei zwar nicht die Regel, aber komme doch vor, dass ihm Polizisten unterstellen, er habe seinen Abgeordneten-Ausweis gefälscht. Für sie „scheint es völlig unmöglich, dass jemand mit dunklen Haaren Abgeordneter sein könnte.“ Der alltägliche Rassismus in den Reihen der Sicherheitsbehörden macht also selbst vor hohen Mandatsträgern wie Movassat nicht Halt. Der Linken-Politiker fordert deshalb, „schonungslos über institutionellen Rassismus zu sprechen, über Vorurteile, die in den Medien verbreitet werden, über Fremdenfeindlichkeit, die als Religionskritik getarnt wird.“

Über die „ganze Ignoranz gegenüber der Einwanderergeneration“ schreibt auch die Abgeordnete Cansel Kızıltepe aus Berlin-Kreuzberg. Sie klagt in ihrem Artikel über die Versäumnisse bei der Integration in Deutschland: Viele türkeistämmige Familien seien beim Ankommen in der Mehrheitsgesellschaft schlicht alleine gelassen worden. Daran habe sich bis heute noch zu wenig geändert: „Auch die Ansprache der Parteien gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund ließ und lässt Verbesserungsbedarf zu“, bilanziert die SPD-Politikerin. Mit ihrem Beitrag will sie zeigen, „welche Erfahrungen Menschen mit Migrationshintergrund machen und warum sie eine Stimme verdienen.“

Dass solche Perspektiven wichtig sind in der viel zu oft hysterisch geführten Debatte über Migration in Deutschland, daran besteht kein Zweifel. Wer heutzutage jedoch immer noch glaubt, Deutschland sei kein Einwanderungsland oder der Islam gehöre nicht hierhier, den wird dieses Buch wohl kaum noch eines Besseren belehren können. Trotzdem geht von dem Sammelband ein positives und sehr wichtiges Signal aus: Die Erfolgsgeschichten der 22 Abgeordneten aus allen im Bundestag vertretenen Parteien zeigen eins, wie der Herausgeber Özcan Mutlu betont: „Mehr als nur eine Kultur in sich zu vereinen ist kein Makel, sondern eine Bereicherung.“

Özcan Mutlu (Hrsg.). Politik ohne Grenzen. Migrationsgeschichten aus dem Bundestag. B&S Siebenhaar Verlag, 223 Seiten, 19,80 Euro.

Der Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung von vorwärts.de

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