SPD-Konferenz in Berlin

Nahles verteidigt das Bundesteilhabegesetz

Carl-Friedrich Höck18. Oktober 2016
Andrea Nahles
Andrea Nahles spricht auf der Konferenz zum Bundesteilhabegesetz im Willy-Brandt-Haus.
Das geplante Bundesteilhabegesetz wurde am Dienstag im Willy-Brandt-Haus kontrovers diskutiert. Die SPD-Arbeitsgruppe Selbst Aktiv hatte zu einer Konferenz in die SPD-Parteizentrale geladen. Bundessozialministerin Andrea Nahles kam den Kritikern ein Stück weit entgegen.

Ein „ehrliches und offenes Gespräch“ wolle man führen, sagte der Vorsitzende der AG Selbst Aktiv, Karl Finke, zu Beginn der zweistündigen Konferenz zum Teilhabegesetz. Er bekam, was er sich gewünscht hatte: Eine kontroverse Debatte zwischen Politikern und Betroffenen. Nicht immer harmonisch, oft emotional, aber stets respektvoll.

Grundsätzlicher Systemwechsel

Mit dem Bundesteilhabegesetz soll Menschen mit Behinderung, die auf Leistungen aus der Eingliederungshilfe angewiesen sind, mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden. Dafür wird die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausgeführt. „Diesen grundsätzlichen Systemwechsel begrüßen wir alle“, sagte die SPD-Generalsekretärin Katarina Barley zu Beginn der Konferenz und fasste die Stimmungslage im Saal damit wohl treffend zusammen. Für Proteste sorgen allerdings die Details.

Umstritten ist zum Beispiel die 5-von-9-Regelung. Behindertenverbände befürchten, dass Betroffene durch sie ihre Leistungsansprüche verlieren könnten. Denn Eingliederungshilfe erhielten dann nur noch Menschen, die in mindestens fünf von neun Lebensbereichen erheblich eingeschränkt sind. Als Lebensbereiche werden etwa „Lernen“, „Kommunikation“, „Häusliches Leben“ oder „Mobilität“ definiert.

Die Sozialministerin sagt: ”Das stimmt nicht”

Konferenz im WBH
Konferenz zum Bundesteilhabegesetz im Willy-Brandt-Haus

Andrea Nahles hält das für ein Missverständnis. „Viele denken, dass mit der 5-von-9-Regelung die Bedarfe ermittelt werden. Das stimmt nicht!“, beteuerte sie. Es handele sich lediglich um eine „typisierende Potenzialeinordnung“.

Auch solle es mit dem neuen Gesetz niemandem schlechter gehen als jetzt – den meisten werde es sogar besser gehen, versprach Nahles. Sie wisse aber, dass es an dieser Stelle ein großes Misstrauen gebe. Deshalb sei sie für eine Übergangsphase, in der die Leistungen doppelt berechnet werden – nach den alten und nach den neuen Regelungen. Damit ließen sich die praktischen Auswirkungen evaluieren.

Nahles will Schongrenzen bei Eingliederungshilfe noch erhöhen

Ein weiterer Kritikpunkt der Behindertenverbände: Zwar können Menschen, die Eingliederungshilfe beziehen, künftig mehr Geld ansparen als bisher. Nach aktuellem Stand dürfen sie ab dem Jahr 2020 bis zu 50.000 Euro auf die hohe Kante legen und vom Einkommen 260 Euro mehr als bisher behalten. Doch auch diese bisher geplanten Freibeträge seien zu niedrig, um echte Selbstbestimmung zu ermöglichen, bemängeln manche. Andrea Nahles versprach, beim Thema Schongrenzen noch mal nachzuverhandeln. „Ich hoffe, dass ich in zwei Wochen beziffern kann, wie das Schonvermögen nach oben angepasst wird“, sagte sie.

Im laufenden parlamentarischen Verfahren werde das Gesetz sicherlich noch verbessert werden, stellte Nahles in Aussicht. Grundsätzlich werde sie das Vorhaben aber nicht in Frage stellen. „Das Bundesteilhabegesetz kommt. Punkt.“

Bundesteilhabegesetzes soll evaluiert werden

Ob alle Versprechen dann auch eingelöst werden, wird die praktische Erfahrung zeigen. Das gilt auch für die Kommunen, die als Träger der Eingliederungshilfe direkt von dem Gesetz betroffen sind. Sie sollen mit der Reform der Eingliederungshilfe eigentlich finanziell entlastet werden. Allerdings zweifelt nicht nur die sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik (Bundes-SGK) daran, dass die Kostenschätzungen der Bundesregierung stimmen und tatsächlich alle entstehenden Mehrkosten vom Bund übernommen werden. Deshalb fordert die Bundes-SGK eine verbindliche Revisionsklausel.

 

Mehr Informationen
Eine aktuelle Erklärung der Beauftragten von Bund und Ländern für die Belange von Menschen mit Behinderung finden Sie hier:
„Teilhabe ist Menschenrecht – was am Bundesteilhabegesetz geändert werden muss!”

Das geplante Bundesteilhabegesetz

Fast 400 Seiten umfasst der Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz, auf den sich das Bundeskabinett am 28. Juni 2016 nach langen Vorberatungen verständigt hat. Mit den Reformen will die Bundesregierung die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention erfüllen. Einige zentrale Änderungen sind:

Die Eingliederungshilfe wird aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausgeführt. Das bedeutet: Sogenannte Fachleistungen – etwa die Kosten für einen persönlichen Assistenten – werden künftig von den Leistungen zum Lebensunterhalt (Wohnung und Essen) getrennt. Und sie werden unabhängig davon finanziert, ob jemand in einer Einrichtung für Behinderte, in einer Wohngemeinschaft oder in einer eigenen Wohnung lebt – das bedeutet mehr Autonomie für die Betroffenen.

Außerdem sollen Menschen mit Behinderung, die auf Eingliederungshilfe angewiesen sind, in Zukunft mehr Geld ansparen können: Der Freibetrag erhöht sich schrittweise von derzeit 2600 Euro auf rund 50.000 Euro im Jahr 2020. Die Einkommen von Lebenspartnern werden ab 2020 nicht mehr angerechnet. Die Freibeträge für Erwerbseinkommen steigen um bis zu 260 Euro monatlich.

Um mehr Menschen mit Behinderung eine Arbeitsstelle zu ermöglichen, soll es Lohnkosten-Zuschüsse von bis zu 75 Prozent geben. Dafür wird ein Budget in Höhe von 100 Millionen Euro bereitgestellt.

Damit die Kosten nicht zu stark ansteigen, sollen Träger der Eingliederungshilfe – also Kommunen und Bundesländer – bestimmte Leistungen bündeln („poolen“) können. Das bedeutet, dass sich mehrere Betroffene einen Assistenten oder einen Fahrdienst teilen können.

Es soll einfacher werden, Reha-Leistungen in Anspruch zu nehmen. Sozialamt, Rentenversicherung, Bundesagentur für Arbeit, Unfall-, Kranken- und Pflegekasse sollen Leistungen wie aus einer Hand anbieten: Ein einziger Antrag soll in Zukunft ausreichen, um ein umfassendes Prüf- und Entscheidungsverfahren in Gang zu setzen.

Für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörige sollen es mehr unabhängige Beratungsmöglichkeiten geben. Hierfür nimmt der Bund 60 Millionen Euro pro Jahr in die Hand. Um Betrug und Missbrauch zu verhindern, sollen Pflegedienste besser kontrolliert werden können, etwa durch eine unangemeldete Einsichtnahme in die Bücher.

Gegenwärtig beziehen etwa 900.000 Menschen Leistungen aus der Eingliederungshilfe. Für Länder und Kommunen bedeutet das Ausgaben von mehr als 14 Milliarden Euro jährlich. Laut Bundessozialministerin Andrea Nahles führt das Bundesteilhabegesetz für den Bund zu Mehrkosten von 700 Millionen Euro pro Jahr.

Die Kommunen sollen nicht zusätzlich belastet werden, sagt Nahles. Dennoch fürchten Kommunalverbände steigende Ausgaben. Zum einen, weil die Kosten für die Eingliederungshilfe auch ohne gesetzliche Änderungen steigen würden – diese Entwicklung wird nun lediglich abgebremst. Und zum anderen, weil die Kommunen mehr Personal benötigen, um zusätzliche Verwaltungs- oder Kontrollaufgaben erfüllen zu können.

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