Interview

Was die Niederlande bei der Stadtplanung anders machen

Carl-Friedrich Höck11. November 2022
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Franziska Mascheck ist Mitglied im Ausschuss für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen.
Um über Wohnungsbau und Stadtplanung zu sprechen, ist eine Delegation des Deutschen Bundestages in die Niederlande gefahren. Die SPD-Abgeordnete Franziska Mascheck war dabei. Im Interview erzählt sie, welche Unterschiede zu Deutschland sie beobachtet hat.

DEMO: In Städten wie Rotterdam oder Amsterdam ist Bauland knapp. Sie sind mit einer Bundestags-Delegation in die Niederlande gefahren, um sich über Wohnungsbau und Stadtplanung zu informieren. An welche Orte hat die Reise Sie geführt?

Mascheck: Wir waren in Den Haag, Rotterdam und Amsterdam. Unter anderen haben wir das Ministerium für Infrastruktur und Verkehr besucht. Dort wurde uns erklärt, wie das Land schon seit Ende der 1980er Jahre eine Strategie für nachhaltige Mobilität verfolgt. Konkret geht es viel um Flächenfragen. In den Oberzentren gibt es wenig Platz, gleichzeitig wächst die Bevölkerung der Niederlande sehr schnell. Also stellt sich die Frage: Wie kann man trotzdem Lebensraum für die Menschen schaffen? Und das meint nicht nur Wohnungen, sondern auch das Café in der Straße, wo man sich treffen kann, und eine gute Mobilität. Man denkt stärker in Gesamtkonzepten, als es in Deutschland der Fall ist. In den Niederlanden gibt es auch viele autofreie Zonen. Das hat der Wirtschaft keinen Abbruch getan.

Wie erklären Sie sich diese Unterschiede?

In den Städten haben die Niederländer*innen das Wasser vor der Tür – dadurch ist auch der Klimawandel immer präsent. Welche Folgen dieser hat, ist hier allen klar. Deshalb gibt es einen starken Grundkonsens, dass etwas gegen den Klimawandel getan werden muss. Der Aspekt Nachhaltigkeit spielt bei der Infrastrukturplanung eine große Rolle. Ein Beispiel: Es gibt die Pflicht, bei jedem neugebauten Gebäude einen Wasserspeicher einzurichten. Das ist Standard.

Die Bundestagsdelegation bei ihrem Besuch in den Niederlanden

Zweitens ist das vernetzte Denken hier stärker etabliert. Im Kampf gegen den Klimawandel arbeiten die Ministerien und zivilgesellschaftliche Akteur*innen über Sektorengrenzen hinweg eng zusammen. Und auch wenn es ums Wohnen geht, wird nicht nur über Gebäudehüllen und Quadratmeterzahlen gesprochen. In unseren Gesprächen mit Architekt*innen und Stadtplaner*innen ist deutlich geworden: Im Mittelpunkt der Planungen steht nicht das einzelne Gebäude, sondern die Lebenswelt der Menschen.

Wir waren in Rotterdam bei Architekten, die sich intensiv damit beschäftigen, was Menschen zum Leben im Quartier benötigen. Dort haben wir uns auch eine große Markthalle angesehen, die Wohnen und Einkaufen miteinander verbindet. Die Halle sieht aus wie ein Ufo: Mit einer Kuppel, die aus Wohnungen besteht – sowohl teure Lofts als auch günstige Wohnungen – und unter der Kuppel ist eine große, überdachte Marktfläche. Das war beeindruckend und ein schönes Beispiel für kreatives Denken.

Wie sorgen die Niederländer für durchmischte Quartiere, in denen Menschen aus verschiedenen Einkommensschichten Tür an Tür wohnen können?

Dazu haben wir uns mit dem Innenministerium ausgetauscht. Obwohl die Regierung liberal bis rechtsliberal ist, betrachtet sie es als staatliche Aufgabe, auf durchmischte Quartiere zu achten. Das wird nicht einfach dem Markt überlassen, weil man die historische Erfahrung gemacht hat, dass das nicht funktioniert.

Die Niederlande haben seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein Gesetz, das einen Anspruch auf Wohnen garantiert. Dadurch haben die Niederländer*innen schon sehr zeitig auf eine soziale Mischung geachtet. Es gab früher viele staatliche Wohnungsunternehmen. Heute sind es eher Stiftungen und Genossenschaften, die zwar privatrechtlich organisiert sind, aber vom Staat bestimmte Auflagen bekommen.

Für neue Quartiere gilt als Faustregel: 30 Prozent sollen Sozialwohnungen sein, 40 Prozent für die mittleren Einkommensschichten zur Verfügung stehen und 30 Prozent für die oberen Schichten. In Amsterdam ist das Verhältnis sogar 40-40-20. Das ist übrigens kein geschriebenes Gesetz, sondern nur eine Vereinbarung, an die sich aber alle halten.

Werden die Wohnungen anders geplant als bei uns?

Die Niederländer*innen sind weniger auf den Quadratmeterpreis fixiert, wenn sie Wohnungen bauen und Bedarfe berechnen. Auch dieses Thema betrachtet man hier vom Ende her: Was können die Menschen fürs Wohnen ausgeben? Da gelten in den Niederlanden 20 Prozent vom Einkommen für die Nettokaltmiete als Maßstab. Als nächstes wird geschaut: Wie viele Räume sind nötig, zum Beispiel um eine Familie mit drei Kindern unterzubringen? Das ist wichtiger als die Zahl der Quadratmeter. Deshalb sind viele Familienwohnungen kleiner als in Deutschland üblich – dafür sind Single-Wohnungen oft etwas größer.

Welche weiteren Unterschiede haben Sie zu Deutschland festgestellt?

Mir ist aufgefallen: In allen Büros und Einrichtungen, in denen wir waren, stand ein großer Tisch. Denn wenn es ein Problem zu lösen gibt, ist es üblich, dass man sich mit allen Beteiligten und Betroffenen zusammensetzt. Das habe ich bei den Stadtplaner*innen erlebt, bei den Architekt*innen und auch beim Infrastruktur- und Bauministerium. Überall überlegt man ernsthaft: Wie kommen wir gemeinsam zum Ziel? In Deutschland ist das bisher eher unüblich, hier prescht meistens ein Ministerium mit einem Vorschlag vor und holt dann noch ein paar Stellungnahmen ein. Ausnahmen waren zuletzt die Gaspreiskommission und das Bündnis für bezahlbares Wohnen.

Welche stadtplanerischen Ansätze und Ideen könnten deutsche Kommunen aus dem Nachbarland übernehmen?

Ein Vorbild ist für mich das Quartiersmanagement, das nicht nur soziale Fragen in den Blick nimmt, sondern auch Infrastruktur, Klimaresilienz und Energieeffizienz. Auch da muss der Quartiersansatz her, denn wenn man die Gebäude einzeln betrachtet, lassen sich die vorhandenen Probleme nicht lösen.

In Deutschland soll es bald eine verpflichtende kommunale Wärmeplanung geben. Sind wir da auf dem richtigen Weg?

Ja und nein. Kommunale Wärmeplanung ist der richtige Ansatz. Aber bei diesem Prozess sollten von Anfang an die Kommunen mit am Tisch sitzen. Im Moment wird das aber eher von oben bestimmt. Ich befürchte, dass die Umsetzung mit sehr vielen komplexen Herausforderungen verbunden sein wird, die auf Bundesebene bisher noch gar nicht wahrgenommen werden.

Die Niederlande sind zentralistischer organisiert, gleichzeitig gibt es mehr „Bottom-up-Prozesse”. Damit dauert die Vorbereitung zwar länger, aber dafür geht die Umsetzung dann schneller. Ich finde, da können wir uns vom Nachbarland ein bisschen was abschauen.

 

Hintergrund:

Eine Delegation des Bundestagsausschusses für Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen ist vom 31. Oktober bis 4. November in die Niederlande gefahren. Ziel war es, mit politischen Entscheidungsträger*innen und Expert*innen über Wohnungsbau und Stadtplanung ins Gespräch zu kommen.

weiterführender Artikel