Johannes Nießen

„In der Pandemie ist die Sinnhaftigkeit des ÖGD allen klar geworden”

Carl-Friedrich Höck21. Februar 2022
Dr. med. Johannes Nießen, Vorsitzender des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst (BVÖGD)
Mit dem milliardenschweren „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst” sollen die Gesundheitsämter für die Zukunft aufgestellt werden. Wie gut das funktioniert, haben wir Johannes Nießen gefragt, den Vorsitzenden des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst (BVÖGD).

DEMO: Wenn in den Medien vom Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) die Rede ist, geht es meistens um die Corona-Pandemie. Was gehört eigentlich sonst alles zu seinen Aufgaben?

Johannes Nießen: Infektionsschutz und -hygiene gehört zu den Hauptthemen, das war auch vor der Pandemie schon so. Da ging es zum Beispiel um Masern-Ausbrüche in Schulen oder Keime in Krankenhäusern. Dort haben wir mit unseren Hygienebegehungen scharf kontrolliert und mussten auch Operationssäle oder Stationen schließen. Im Jugendgesundheitsdienst gibt es „frühe Hilfen“, damit wird Eltern aufsuchend Unterstützung angeboten, die es besonders nötig haben. Es gibt den sozialpsychiatrischen Dienst. Es gibt Gesundheitsämter, die sich um Menschen kümmern, die keinen Platz in der Arztpraxis oder Klinik haben, wie beispielsweise Obdachlose, Prostituierte und Drogenabhängige. Der Amtsärztliche Dienst überprüft Amtspersonen wie Lehrerinnen und Lehrer oder Juristen auf ihre gesundheitliche Eignung. Trinkwasser und Badewasser werden kontrolliert. Die Bandbreite unserer Tätigkeiten ist also groß.

DEMO: Wie haben Sie die vergangenen beiden Pandemie-Jahre erlebt? Und welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewonnen?

Es ist eine besondere Situation aufgetreten, die wir so zwar vorher schon geübt, aber noch nie erlebt haben. Damit stand der Öffentliche Gesundheitsdienst vor einer der größten Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte. In vielen Kommunen haben wir das gut gemeistert. Meine Erkenntnis ist, dass eine Krise auch eine Chance sein kann. Vorher ging vieles nicht, was jetzt geht – zum Beispiel, dass Bund und Länder einen Gesundheitsdienst-Pakt beschließen und Milliardensummen in den ÖGD packen.

Zuvor ist am ÖGD oft gespart worden. Im September 2020 haben sich die damalige Bundeskanzlerin und die Länderchefs auf einen „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ verständigt. Der Bund will bis 2026 insgesamt vier Milliarden Euro dafür bereitstellen. Wie hilfreich ist diese Summe?

Sie haben Recht, das Gesundheitsamt war oft der Steinbruch, weil nicht immer jedem politischen Entscheider klar war, was da eigentlich passiert. Wenn ich zum Arzt gehe, bekomme ich eine Pille und im Krankenhaus kann ich mir den Blinddarm entfernen lassen. Es gibt also ein konkretes Ergebnis, ich bin geheilt. Der Öffentliche Gesundheitsdienst ist vorwiegend präventiv tätig, und Präventionserfolge lassen sich nicht so einfach messen.

In der Pandemie ist die Sinnhaftigkeit des ÖGD allen klar geworden. Vier Milliarden Euro, daraus lassen sich 5.000 Stellen für die 380 Gesundheitsämter schaffen. Das ist ein gutes Signal für die Zukunft des Öffentlichen Gesundheitsdienstes.

Um den Pakt umzusetzen, wurde ein Beirat gegründet, unter dem Vorsitz Ihrer Amtsvorgängerin Dr. Ute Teichert. Im Oktober 2021 hat der Beirat konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten?

Wir müssen das Personal finden und einstellen. Dazu gehört, dass wir tarifgerechte Löhne zahlen, die auch mit dem Krankenhaus nebenan mithalten können. In der Krise haben wir viel mit Hilfspersonal gearbeitet, bei mir in Köln wurden wir von mehr als 1.000 Studierenden unterstützt. Wir brauchen aber auch Fachpersonal: Hygieneinspektoren beziehungsweise Gesundheitsaufseherinnen, Fachärztinnen und Fachärzte.

Ein weiterer Punkt ist die Digitalisierung. Von den vier Milliarden Euro sind 800 Millionen dafür vorgesehen, den ÖGD zu modernisieren. Ein wichtiges Anliegen ist auch die Verbindung mit der Wissenschaft, eine engere Anbindung an die Universitäten.

Zu Beginn der Pandemie wurde viel über Zettelwirtschaft geklagt. Die Digitalisierung ist ein sehr umfassendes Projekt. Wo stehen wir aktuell?

Wir stehen zwischen Anfang und Mitte, die Grundsteine sind gelegt. Es geht im Wesentlichen darum, eine einheitliche Software zu generieren. Wir haben aktuell fünf oder sechs Anbieter von Softwares, die in verschiedenen Bundesländern die Daten auf unterschiedliche Weise erheben. Das muss zusammengeführt werden, wir brauchen eine standardisierte Vorgehensweise.

Es gibt schon erste gute Versuche vom Robert-Koch-Institut. Wir haben die Software „DEMIS“, mit der Labore Infektionsmeldungen an die Gesundheitsämter übermitteln. Mit „SurfNet“ können wir unsere Informationen an die Landesgesundheitsämter und ans RKI weitertragen. Das Problem: Das System war nur belastbar bis ungefähr 500 Fälle am Tag. Wir hatten aber in Köln zeitweise bis zu 10.000 Fälle. Dadurch ist das System zusammengebrochen und es entstand eine Meldelücke, die wir jetzt durch eine neue Software beseitigen konnten. Das zeigt: Digitalisierung ist ein ganz wichtiges Thema.

Zum Personal ist ein konkretes Ziel vereinbart worden: 2021 sollten 1.500 neue Stellen geschaffen werden, im laufenden Jahr sollen 3.500 weitere Vollzeitstellen hinzukommen. Schaffen wir das?

Ja. Die erste Tranche ist angekommen und an der zweiten arbeiten wir gerade. Das Geld hilft uns. Nicht jede Kommune wollte die Geschenke annehmen, weil manche Sorge haben, die Stellen nicht mehr weiterfinanzieren zu können, wenn die Unterstützung in fünf Jahren ausläuft. Dadurch konnten andere Kommunen sogar mehr Geld bekommen.

Sie wünschen sich eine bessere Vernetzung der Gesundheitsämter mit der Wissenschaft, speziell den Universitäten. Warum gibt es die nicht längst und wie soll sich das ändern?

Es gibt schon viel Vernetzung, die gab es auch schon vor der Pandemie. Das hängt oft an einzelnen Personen, die ein Interesse daran haben, dass zum Beispiel die Daten der Kinder aus der Schuleingangsuntersuchung aufbereitet werden, weil man daraus ganz wichtige Erkenntnisse gewinnen kann: Werden die Kinder schwergewichtiger? Sind sie psychologisch auffälliger? Das sind wichtige Indikatoren. Viele Versorgungspartner im Gesundheitswesen sind für solche Daten dankbar. Jetzt wird das mit dem ÖGD-Pakt intensiviert. Wir stellen bewusst Bewerberinnen und Bewerber ein, die auch selbst wissenschaftlich ausgebildet sind und mit den Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft eng zusammenarbeiten.

Zum Schluss bitten wir Sie um ein Zwischenfazit zum Pakt für den ÖGD: Was hat sich seit 2019 verbessert und wo hakt es noch?

Der ÖGD-Pakt ist der richtige Schritt gewesen, für den wir vor Ort in den Gesundheitsämtern sehr dankbar sind. Wir müssen allerdings jetzt beobachten, ob das wirklich unseren Bedarf an Personal, Modernisierung und Vernetzung deckt. Dazu muss eine Evaluation durchgeführt werden. Im kommenden Jahr sollten wir uns ansehen, ob alles, was gewollt war, auch erreicht worden ist.