Pflege

Pflegeberufe in der Corona-Krise: „Wir verlieren einen ganzen Ausbildungsjahrgang“

06. April 2020
Eigentlich sollte zum 1. April der erste Jahrgang der generalistischen Pflegeausbildung starten. Durch Corona droht nun ein ganzer Ausbildungsjahrgang verloren zu gehen, warnt die SPD-Bundestagsabgeordnete Bettina Müller.
Bettina Müller ist gelernte Krankenschwester und seit 2013 für die SPD im Gesundheitsausschuss. Sie warnt: Durch die Corona-Krise könnten 40.000 dringend benötigte Nachwuchskräfte in der Pflege verloren gehen.
Am 1. April sollte der erste Jahrgang einer generalistischen Pflegeausbildung starten. Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise darauf?

Das Problem ist: Alle Pflegeschulen sind wegen der Corona-Epidemie geschlossen. Bis nach den Osterferien, möglicherweise auch länger. Dadurch steht der Start der neuen Pflege-Ausbildung auf der Kippe. Auch weil das Pflegeberufegesetz vorsieht, dass die Schulen die Koordination dieser Ausbildung übernehmen. Das geht natürlich nicht, wenn die Schulen geschlossen sind. Hessen hat den Start der Ausbildung deswegen auf Oktober verschoben, Berlin erst mal auf Mai. Dort sollen die Schulträger die Zeit bis dahin mit E-Learning überbrücken. Rheinland-Pfalz überlässt es den Schulen, wann sie mit der Ausbildung starten. Doch nicht jeder Schulabgänger hat einen Laptop. Da ist es schwierig, die theoretischen Grundlagen ausreichend zu vermitteln. In manchen Bundesländern sollen Schulen auch keine oder nur reduzierte Zuweisungen aus den Ausbildungsfonds bekommen, solange sie geschlossen sind.

Bettina Müller ist SPD-Bundestagsabgeordnete und Mitglied des Gesundheitsausschusses.
Bettina Müller ist SPD-Bundestagsabgeordnete und Mitglied des Gesundheitsausschusses.

Welchen Einfluss hat diese Verzögerung auf den Fachkräftemangel im Pflegebereich?

Das hat ganz massive Auswirkungen. Pro Jahr werden mehr als 40.000 Fachkräfte in der Alten- und Krankenpflege ausgebildet. Wenn der Start der Ausbildung nun teilweise auf den Herbst verschoben wird, werden viele gezwungen sein, zur Überbrückung zu jobben oder fallen als potenzielle Azubis weg, weil sie sich anderweitig orientieren. Wir verlieren dadurch einen ganzen Ausbildungsjahrgang. Kleinere Pflegeschulen könnten die Schließung möglicherweise gar nicht überleben. Ein ungeregelter Start mit schlecht funktionierenden E-Learning-Angeboten, fehlender Koordinierung und hohen Fehlzeiten wirkt sich auch auf die Ausbildungsqualität aus.

Was kann man dagegen tun?

Die Ausbildung sollte nur dann regulär starten, wenn die Träger sinnvolle Einsätze und die Praxisanleitung gewährleisten können. Der Qualitätsaspekt muss gewahrt sein. Wenn das nicht möglich ist, sollten wir die Wiedereröffnung der Schulen lieber verschieben. Man sollte die Azubis in diesen Fällen freistellen, aber die Ausbildungsvergütung weiterzahlen, damit sie nicht von der Fahne gehen. Auch die Pflegeschulen sollten weiter finanziert werden. Sie können schließlich nichts für die Krise.

In Krisenzeiten wird wieder mehr über den Stellenwert von Pflegeberufen diskutiert. Wenn jetzt Menschen abends vom Balkon aus klatschen, ist das eine verdiente Anerkennung oder eher zynisch?

Zynisch ist es nicht. Wir haben uns im Bundestag in der vergangenen Woche auch zu Beginn der Plenarsitzung erhoben und in Anerkennung der Leistung dieser systemrelevanten Berufe applaudiert. Das ist gut gemeint, aber es hilft den Leuten nicht weiter. In den sozialen Netzwerken gab es ja schon entsprechende Kommentare von Menschen aus der Pflege.

Die Gehälter in den Pflegeberufen liegen zwischen 33.000 und 39.000 Euro. Muss man da nicht dringend nachbessern?

Ja, wir brauchen dringend bessere Vergütungsstrukturen. Es ist auch unerträglich, dass es immer noch Pflegarbeitergeber gibt, die sich Tarifverträgen verweigern. Anfang der 80er-Jahre habe ich als Krankenschwester noch 10 D-Mark im Nachtdienst bekommen, während die Menschen in den Industrieberufen dreimal so viel verdient haben. Das ist besser geworden, aber noch lange nicht so, dass wir ein gleiches Verdienstniveau haben. Das ist auch wieder typisch für Frauenberufe. Zudem brauchen wir eine breitere Interessenvertretung in der Pflege. In skandinavischen Ländern sind mehr als 80 Prozent der Pflegekräfte organisiert. Die gehen notfalls auch mal in den Streik, um ihre Interessen durchzusetzen.

 

Der Pfleger und Sozialdemokrat Alexander Jorde hat kürzlich auf Twitter geschrieben, Pflegekräfte würden von der Politik in der Krise im Stich gelassen. Hat er Recht?

Wir tun alle unser Bestes, aber das kriegt man nicht in ein paar Tagen oder Wochen hin. Auch auf kommunaler Ebene versuchen Sozialdemokraten aktuell, den Menschen in den Kliniken ihren Job zu erleichtern, ihnen entsprechende Schutzausrüstung zur Verfügung zu stellen und sie in jeder Hinsicht zu unterstützen. Doch all das, was sich über Jahre an Problemen aufgestaut hat, ist jetzt wie in einem Brennglas erkennbar. Es wird ersichtlich, wie wichtig dieser Beruf ist, welchen Mangel wir haben und wo wir ganz dringend nacharbeiten müssen. Auch unsere sozialdemokratischen Minister betonen in diesen Tagen zurecht, dass wir diese Berufe besserstellen müssen, vergütungstechnisch und strukturell. Damit uns nicht noch mehr Leute im Pflegebereich von der Fahne gehen und wir auch welche zurückgewinnen.

Viele Menschen können sich in der Corona-Krise schützen, indem sie zu Hause bleiben und im Home Office arbeiten. Bei Pflegekräften ist das naturgemäß anders. Wie kann man diese besser schützen?

In Italien und Spanien haben sich sehr, sehr viele Pflegekräfte infiziert. Zum Teil gab es sogar Todesfälle. Aus diesen Erfahrungen müssen wir lernen. Denn für diejenigen, die direkt mit Covid-19-Erkrankten zu tun haben, besteht ein enorm hohes Risiko. Deswegen müssen die Verantwortlichen darauf achten, dass ihre Beschäftigten sich zuerst selbst schützen. Zugleich muss das Personal vor Überlastungssituationen geschützt werden. Da sind wir aber auch gut aufgestellt.