Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Sanktionen beim Bezug von ALG 2 teilweise verfassungswidrig

Christian Rath05. November 2019
Bundesverfassungsgericht Roben
Richterroben am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
Das Bundesverfassungsgericht hält Hartz IV-Sanktionen für zulässig – begrenzt aber ihre Höhe. Die Kürzung darf nicht mehr als 30 Prozent ausmachen, so die Richter.

Wer als Arbeitsloser wiederholt ein Jobangebot oder eine Maßnahme ablehnt, muss künftig nur noch mit einer 30-prozentigen Kürzung der Hartz-IV-Leistungen rechnen. Die bisher vorgesehene Kürzung um 60 Prozent ist derzeit genauso verfassungswidrig wie die Streichung der gesamten Leistung. Das hat das Bundesverfassungsgericht jetzt in einem Grundsatzurteil entschieden.

Enger Spielraum des Gesetzgebers

Wer länger als ein Jahr keine Arbeit hat, bekommt nur noch das Arbeitslosengeld 2 (umgangssprachlich meist Hartz IV genannt). Es orientiert sich nicht am früheren Lohn, sondern deckt lediglich das Existenzminimum. Derzeit betragen die Leistungen für einen Alleinstehenden 424 Euro pro Monat, plus Kosten für Unterkunft und Heizung. Knapp sechs  Millionen Menschen empfangen zur Zeit in Deutschland Hartz IV-Leistungen.

Das im Jahr 2005 eingeführte Hartz IV-Konzept "Fordern und Fördern" sieht Sanktionen vor, wenn ein Arbeitsloser ein Jobangebot oder eine Fördermaßnahme ablehnt oder abbricht. Beim ersten Mal werden die Leistungen um 30 Prozent gekürzt, beim zweiten Mal um 60 Prozent, bei weiteren Weigerungen entfällt die Leistung ganz. Die Sanktion dauert jeweis drei Monate.

Das Sozialgericht Gotha hielt diese Sanktionsregelung für verfassungswidrig und legte einen konkreten Fall in Karlsruhe vor. Das menschenwürdige Existenzminimum müsse vom Staat gedeckt werden, deshalb sei eine Kürzung dieser Leistungen auch bei einem Pflichtverstoß nicht möglich, so die Thüringer Richter.

Existenzminimum: Kürzungen ja, aber verhältnismäßig

Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, dass Kürzungen beim Existenzminimum grundsätzlich möglich sind. Der Staat habe bei der Umsetzung des „Schutzauftrags“ für die Menschenwürde einen weiten Gestaltungsspielraum. So darf er die Sicherung des Existenzminimums auf diejenigen beschränken, die "wirklich bedürftig" sind und sich nicht selbst helfen können. Wer eigene finanzielle Mittel hat, muss diese zunächst einsetzen und wer Arbeitsangebote bekommt, muss diese im Rahmen seiner „Mitwirkungspflicht“ annehmen.

Zumutbar sei hier auch die Pflicht, eine Arbeit anzunehmen, die nicht dem eigenen Berufswunsch und nicht der bisherigen Tätigkeit entspricht, so die Verfassungsrichter.  Auch die Teilnahme an Maßnahmen, die kein Einkommen bringen, kann verlangt werden – wenn sie (wie zum Beispiel Sprachkurse) geeignet sind, Vermittlungshemmnisse zu beseitigen. Unzumutbar seien aber Maßnahmen, die nur der "Besserung" oder
"Erziehung" der Arbeitslosen dienen.

Diese Mitwirkungspflichten dürfen grundsätzlich auch mit Sanktionen durchgesetzt werden, so Karlsruhe. Allerdings ist der Spielraum des Gesetzgebers hier eng, weil es um das Existenzminimum geht. Hier müsse die Verhältnismäßigkeit streng geprüft werden.

Demnach ist eine 30-prozentige Leistungskürzung noch verhältnismäßig. Der Gesetzgeber dürfe sie für geeignet halten, Arbeitslose dazu zu bringen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit mitzuwirken, so die Richter.

Übergangsregelung

Für die Erforderlichkeit einer 60-prozentigen Kürzung oder für die völlige Streichung fehlten dagegen Forschungsergebnisse, die die Geeignetheit belegen. Nach über zehn Jahren Hartz-IV-Geltung dürfe sich der Gesetzgeber bei so massiven Sanktionen nicht mehr auf „plausible Annahmen“ verlassen. Vor allem bei der Totalsanktion drohten negative Effekte wie Verlust der Wohnung, Gesundheitsschäden, das Abgleiten in
eine Schuldenspirale oder gar in die Kriminalität. Die Möglichkeit, während der  Sanktionszeit ergänzende Sachleistungen zu bekommen, genüge nicht, weil sie ins Ermessen der Behörden gestellt ist. 

Generell kritisierten die Richter die Rigidität der Hartz IV-Sanktionen. Bisher sei es nicht möglich, außergewöhnliche Härten (etwa die Probleme von psychisch Kranken) zu berücksichtigen. Auch die "starre" dreimonatige Dauer der Sanktionen sei  unverhältnismäßig. Wenn eine Mitwirkungspflicht nachträglich erfüllt wird, müsse dies zum Ende der Sanktionen führen.

Als Übergangsregelung gilt nun bis auf weiteres, dass die Jobcenter als Sanktion maximal 30 Prozent des ALG 2 kürzen können. Sie müssen außerdem Härten berücksichtigen und die Sanktion beenden, sobald der Arbeitslose seine Pflichten erfüllt. Das Gericht setzte dem Bundestag keine Frist für eine Neuregelung.

Der Gesetzgeber wird sich dennoch wohl bald mit dem Hartz IV-Sanktionssystem befassen müssen. Denn das Urteil der Verfassungsrichter konnte anhand der Gothaer Vorlage zwei wichtige Sanktions-Konstellationen nicht behandeln: die zehn-prozentige Kürzung der Leistungen bei der Verletzung von Meldepflichten (darum geht es in 77 Prozent aller Sanktionen) und die Möglichkeit, bei Menschen unter 25 Jahren schon beim ersten Verstoß die gesamte Leistung zu kürzen. (Az. 1 BvL 7/16)

Wie die Städte und Kreise auf das Urteil reagieren

Der Deutsche Landkreistag begrüßt, dass Sanktionen auch weiterhin möglich sind. „Ohne dieses Instrumentarium erreichen wir manche Menschen nicht und können nicht darauf drängen, an der Jobsuche mitzuwirken oder an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen“, sagt Landkreistag-Präsident Reinhard Sager. „Das Prinzip von Fördern und Fordern ist nach wie vor eine tragende Säule der Arbeit der Jobcenter.“

Die im Verhältnis zur Zahl der Leistungsberechtigten niedrige Sanktionsquote von gut drei Prozent in den letzten Jahren zeige, dass Minderungen nur einen geringen Teil der Hartz IV-Bezieher betreffen. „Das belegt, dass dieses Instrument gerade dadurch wirkt, dass es zur Verfügung steht und nicht eingesetzt werden muss“, meint Sager.

Die Regeln müssten aber angepasst werden, um die Regelungen künftig bezogen auf die bislang starre dreimonatige Dauer der Leistungskürzung flexibler auszugestalten, außergewöhnliche Härten zu verhindern und die Leistung bei Mitwirkung umgehend wieder zu gewähren. Sager weiter: „Hilfreich wäre, wenn die heutigen Sonderregelungen bei Pflichtverletzungen von Personen unter 25 Jahren gestrichen werden würden.“ Diese seien „unnötige Doppelbürokratie“.

Auch der Deutsche Städtetag ist mit dem Urteil zufrieden und möchte an dem Grundsatz „Fördern und Fordern“ festhalten. Aus Sicht der Städte sei das Urteil abgewogen, heißt es in einem Statement von Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. In der alltäglichen Arbeit spielten Sanktionen eine eher begrenzte Rolle.

Es sei der Wunsch der Städte, „Sanktionen gegen Leistungsberechtigte nur dann aussprechen zu müssen, wenn kein anderes Mittel geeignet ist, die geforderte Mitwirkung herbeizuführen“, so Dedy. Er plädiert auch dafür, die besonders harten Sanktionsregeln für Menschen unter 25 Jahren abzuschaffen. „Wir möchten uns um junge Menschen kümmern, vertrauensvoll mit ihnen zusammenarbeiten und ihnen über schwierige Lebenssituationen hinweghelfen. Sanktionen erhöhen aber für Menschen dieser Altersgruppe die Gefahr, nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.“

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