Interview mit Olaf Scholz

Mit Schwung in die Zeit nach Corona starten

Karin Billanitsch27. August 2021
Olaf Scholz ist Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl.
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im großen DEMO-Interview: Er will nach der Wahl den Wohnungsbau ankurbeln, Schulen modernisieren und die Förderpolitik des Bundes entbürokatisieren. Den mit Altschulden belasteten Kommunen soll geholfen und die Klimaneutralität auch kommunal vorangetrieben werden.

DEMO: Vor Ihren Ämtern als Bundesfinanz­minister und Vizekanzler waren Sie ­Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Besonders in Erinnerung bleibt der Wohnungsbau. Hamburg ist hier Vorbild in Deutschland. Wie ist dieser Erfolg gelungen?

Olaf Scholz: Bauen. Ich habe das Problem erkannt und mich dem angenommen, anstatt mich wegzuducken und darauf zu hoffen, dass sich das schon irgendwie von allein regelt. Als ich Bürgermeister von Hamburg war, ging es mir um Hamburg als wachsende Stadt. Jetzt geht es um ganz Deutschland: Wir müssen mehr Wohnraum schaffen – das heißt auch mehr bezahlbare Wohnungen. Das ist ein Kraftakt – der zu schaffen ist. 1973 sind in Deutschland rund 800.000 Wohnungen errichtet worden. Heute schaffen wir gerade mal 300.000, wir bräuchten aber mindestens 400.000 neue Wohnungen, 100.000 davon geförderte Mietwohnungen. Bis wir so weit sind, gilt die Mietpreisbremse. Außerdem schlagen wir ein Mietpreismoratorium vor, damit die laufenden Mieten nicht so stark steigen können.

Während der vergangenen Monate haben sich viele an den Einkauf im Internet gewöhnt. Wie können wir die Innenstädte wiederbeleben?

Lebendige Innenstädte sind mir ein großes Anliegen. Dabei ist es nicht allein ­eine Frage des Geldes, sondern auch eine Frage der Kreativität. Drei neue Blumenkübel und ein Fahrradständer sind noch kein Innenstadtkonzept. Man muss sich vielmehr fragen: Wie kann man Immobilien, die früher für Geschäfte genutzt wurden, auch anders nutzen, um Kunden anzuziehen. Wie erreiche ich, dass sich neue Läden ansiedeln? Auch technische Innovationen können dazu beitragen, den Weg in die Innenstadt statt in den nächsten Online-Shop zu wählen. Ich persönlich bin begeistert, wenn ich vor dem Stadtbummel herausfinden kann, ob ein bestimmtes Produkt in einem Geschäft vorrätig ist und ich es vorab reservieren kann. Ich möchte es gar nicht nach Hause geschickt bekommen, sondern im Geschäft an- oder ausprobieren. Aber ich will sichergehen, dass es auch vorrätig ist.

Wo ist soziale Politik auf kommunaler Ebene ganz besonders wichtig?

In der Bildungspolitik – und zwar von der Kita bis zur Berufsschule. Denn eines ist doch klar: Der Zugang zu guter Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Wir wollen den Bildungserfolg in Deutschland von der sozialen Herkunft entkoppeln. Wir brauchen außerdem ­einen Modernisierungsschub – der sowohl die Schulgebäude als auch die digitale Ausstattung umfasst. Bundesgelder und Förderprogramme sind vorhanden. Aber wir haben es mit einem Investitionsstau zu tun. Als früherer Bürgermeister kenne ich die Frage auf kommunaler ­Ebene: „Will ich diese Förderung überhaupt oder lass ich‘s lieber bleiben?“ Diese Förder-Töpfchenpolitik ist oft auch Ausdruck davon, dass es keine klaren Vorstellungen im Bund gegeben hat, was man eigentlich erreichen will. Und dann wunderte man sich, dass Geld nicht ordentlich abgerufen wurde. Damit muss Schluss sein. Als Kanzler habe ich klare Ideen für die Zukunft, daran wird sich die Förderpolitik orientieren. Weniger bürokratische Förderungsanträge wären ein Gewinn! Gleichzeitig braucht es den Einsatz auf allen Ebenen. Ich möchte, dass es jede Rathauschefin als ihr ­Problem empfindet, wenn die Schule nicht am Breitbandnetz angeschlossen ist und sich kümmert – sonst helfen all die Förder­programme nichts.

Gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, vom kleinen Dorf bis hin zur großen Stadt, ist ein wichtiges Ziel. Wie wollen Sie als Bundeskanzler dafür sorgen, dass das gelingt?

Millionen Bürgerinnen und Bürger leben in einer strukturschwachen Region ohne guten Nahverkehr und sind aufs Auto angewiesen. Wer auf dem Land lebt und 50 Kilometer zur Arbeit fahren muss, dem hilft die Belehrung wenig, dass das Fahrrad das ökologischste Verkehrsmittel ist. Daher muss es unser gemeinsames Ziel sein, überall intelligente neue öffentliche Verkehrsangebote zu entwickeln. Es geht um einen modernen, verlässlichen und bezahlbaren öffentlichen Nahverkehr.

Durch die Corona-Krise haben die kommunalen Finanzen gelitten. Die Kommunen sind von ­Sozialausgaben entlastet und Gewerbesteueraus­fälle für 2020 sind ersetzt worden. Der ÖPNV wurde finanziell unterstützt. Sie haben als Kanzlerkandidat versprochen, das Problem der Alt­schulden zu lösen. Wie wollen Sie das als Bundeskanzler angehen?

Die mit Altschulden belasteten Kommunen brauchen eine Stunde Null. Vielen Städten und Gemeinden bleibt kaum mehr die Luft zum Atmen. Mein Ziel ist, dass die Kommunen mit Schwung in die Zeit nach Corona starten. Wir brauchen massive Investitionen in die Infrastruktur: in die Schulen, in den öffentlichen Nahverkehr mit Bussen und Bahnen und in die Digitalisierung. Das will ich als Bundeskanzler sofort anpacken. Mein Vorschlag: Der Bund nimmt den betroffenen Gemeinden die Kassenkredite ab. Das habe ich mehrfach vorgeschlagen, bin aber bei CDU/CSU auf Granit gestoßen. Mit mir als Bundeskanzler wird es eine Entlastung von den Altschulden geben. Aber klar ist auch: Eine Stunde Null ist eine Stunde Null. Das kann man nur einmal machen. Mit der Altschulden-Regelung wäre die Auflage verbunden, solche Schulden-Situationen künftig zu vermeiden.

Sie haben ein großes Ziel: bis 2030 das modernste und klimafreundlichste Mobilitätssystem ­Europas aufzubauen, und bis 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Wie wollen Sie dabei die Kommunen mitnehmen?

Ich möchte, dass jede Bürgermeisterin, jeder Stadtkämmerer morgens aufwacht mit der Frage: Habe ich in meiner Gemeinde genügend Ladestationen für Elektrofahrzeuge, statt zu sagen: Da ist ja keiner, der sie mir baut. Denn vor uns liegt eine zweite industrielle Revolution. 250 Jahre lang stützte sich unsere Industrie auf die Nutzung von Kohle, Gas und Erdöl. Nun wollen wir innerhalb von nicht mal 25 Jahren komplett CO2-neutral werden. Dafür müssen wir die Erneuerbaren Energien in einer Dimen­sion ausbauen, die bislang noch nicht mal geplant, geschweige denn auf den Weg gebracht worden ist. Es kann keine Lösung sein, Autos und Flugzeuge einfach zu verbieten oder unerschwinglich teuer zu machen. Das Wichtigste ist, dass wir unsere Industrie so organisieren, dass sie schon in ganz kurzer Zeit CO2-neutral wirtschaftet. Denn es geht um drei Dinge: den Wohlstand Deutschlands, um Millionen Arbeitsplätze und um Klimaneutralität. Ich will die drei Dinge zusammenbringen.

Worauf kommt es jetzt im Endspurt des Bundestagswahlkampfs für die SPD an?

Den Blick nach vorn richten. Das wird eine Kanzlerwahl. Dass so viele Bürgerinnen und Bürger mir das Amt des Bundeskanzlers wünschen, freut und bewegt mich sehr.
Unsere Ausgangslage ist gut. Die SPD ist geeint und fokussiert: Uns geht es um Respekt vor Arbeits- und Lebensleistungen. Wir erleben eine Zunahme unsicherer Arbeitsverträge und niedriger Löhne. Gerade deshalb brauchen wir einen Mindestlohn von 12 Euro, der zehn Millionen Angestellten eine Lohnerhöhung bringt – außerdem mehr ­Tarifbindung und starke Betriebsräte. Immer mehr Parteien machen Politik für irgendwelche Teilgruppen und Lobby­interessen. Ich halte das für einen Fehler. Die Frage, wie viel eine Pflegekraft verdient, ist für uns alle ein Thema. Das ist eine große Lehre der Corona-Krise.

Die zweite große Aufgabe ist die Zukunft unseres Landes. CDU und CSU verstehen das Ausmaß der anstehenden Energierevolution nicht. Es geht schon lange nicht mehr um die Frage, ob es Klimaschutz geben soll oder nicht. Jetzt geht es darum, wer den ­Klimaschutz durchsetzt. Die Grünen finden Ökostrom zwar chic, aber wollen sich dann in der konkreten Umsetzung nicht die Finger schmutzig machen. Man muss schon bereit sein, mit einem Bagger eine Stromleitung zu verlegen und ­Genehmigungen gegen den Widerstand auch von Umweltverbänden durchzukämpfen. Soll ich Ihnen sagen, wie viele Windräder im einzigen grün-geführten Bundesland, in Baden-Württemberg, im vergangenen Jahr gebaut worden sind? Zwölf.

Und so gehören die beiden Themen Respekt und Zukunft sehr eng zusammen: 83 Millionen Bürgerinnen und Bürger müssen sich Klimaschutz leisten können. Meine Klimapolitik funktioniert für alle, unabhängig vom Einkommen. Das ist mein Plan für Deutschland. Wer will, dass ich Kanzler werde, muss bis zum 26. September das Kreuz bei der SPD machen. Mehr braucht es dazu nicht.