Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven

Wie Streitkultur im Kommunalen aussehen sollte

Ulf Buschmann02. Februar 2023
Bremerhaven mit seiner Skyline und dem Neuen Alten Hafen.
Die Kommunalparlamente sind nah an den Menschen. Oder doch nicht? Darum ging es jüngst in Bremerhaven. Anlass war der 75. Geburtstag der Stadtverordnetenversammlung.

Auf der einen Seite bleiben die Plätze für die Zuhörer*innen meistens unbesetzt. Kommunalpolitik interessiert die Menschen kaum oder gar nicht. Auf der anderen Seite regen sich Anwohnende über bestimmte Entscheidungen auf – Mandatsträger*innen und Bürgermeister*innen werden bedroht. Doch es geht anders – im Bremerhavener Jugendparlament zum Beispiel. 50.000 Euro hat die Stadtverordnetenversammlung dafür im aktuellen Haushalt bereitgestellt.

Genau 75 Jahre ist es her, dass sie sich erstmals konstituiert hat. Grund genug also, gleich eine ganze Veranstaltungsreihe dafür ins Leben zu rufen. „Start mit einem Paukenschlag – (Kommunal-) Politische Streitkultur gestern, heute, morgen“, hieß es kürzlich im Ella-Kappenberg-Saal der Volkshochschule Bremerhaven – ein ehrwürdiger Ort, in dem auch die 48 Stadtverordneten zusammenkommen. Zum ersten Mal geschah dies am 4. November 1947.

„Freieste Gemeinde in der Bundesrepublik”

An diesem Tag „erhielt Bremerhaven eine neue Stadtverfassung“, steht auf der Internetseite. Diese sei „im Zuge der Neugründung des Landes Bremen aufgrund der Eingliederung der preußischen Stadt Wesermünde“ entstanden. Und: „Auf diese Stadtverfassung gründet der Ruf Bremerhavens als freieste Gemeinde in der Bundesrepublik.“ Darauf wies auch Stadtverordnetenvorsteher Torsten von Haaren (SPD) hin.

Er schlug den Bogen in die Gegenwart: Einer der Gründe dafür, dass sich die Menschen wie in Bremerhaven kaum oder gar nicht fürs Kommunale interessierten, könne die sogenannte Hinterzimmer-Politik sein. Entscheidungen über bestimmte Themen fallen im kleinen Kreis. „Ist das immer noch so?“, fragte von Haaren in die Runde.

Während Sülmez Colak, Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft mit Grünen-Parteibuch, Hinterzimmer-Politik komplett ablehnte, differenzierte der Bremerhavener SPD-Unterbezirksvorsitzende Martin Günthner. Er verwies auf die Neuanfänge der Politik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: „Politik hat in Hinterzimmern angefangen. Die Parteien haben sich in den Kneipen getroffen.“ Günthner, erklärte, er halte überhaupt nichts vom Hinterzimmer-Narrativ. Wichtig sei eine politische Streitkultur, um zu einem Ergebnis zu kommen.

Der SPD-Chef Bremerhavens forderte: „Die Menschen müssen aus der eigenen politischen Blase herauskommen.“ Damit traf Günthner ins Herz des Politikwissenschaftlers Lothar Probst. Der emeritierte Professor der Universität Bremen hatte bereits vor einigen Jahren als Mitglied einer Arbeitsgruppe im Auftrag von Bremens ehemaligem Bürgerschaftspräsidenten Christian Weber Vorschläge für eine bürgernahe Politik ausgearbeitet – die laut Probst leider im Sande verlaufen sind.

„Ritualisierte Abgrenzungskämpfe”

„Was viele Menschen ärgert, sind diese ritualisierten Abgrenzungskämpfe“, sagte Probst. Und: „Politik sollte ein Schutzraum für Diskussionen sein.“ Dies sei nicht nur für eine bürgernahe Kommunalpolitik wichtig. Hinzu komme, dass „sehr viel Destruktives“ vor allem über die sozialen Medien in die Kommunalpolitik hinein schwappe. Ihm würden viel zu viele Politiker*innen in den Gremien auf diesen Zug aufspringen. Probst: „Manchmal wäre es besser, wenn Politiker*innen nicht auf dieser Ebene mitmachen.“

Probst machte sich in Bremerhaven zum wiederholten Mal fürs Erklären stark: Die Menschen müssten einfach wissen, dass in Deutschland das Prinzip des kooperativen Parlamentarismus gelte: „Vieles findet in den Ausschüssen statt. Dort geht es meistens viel gesitteter zu.“ Und natürlich müssten das jeweilige Parlament und seine Ausschüsse „dorthin gehen, wo die Menschen sind“. Die Parteien müssten „mehr Räume bieten, um Bürger einzubinden“.

Thematische Arbeitsgruppen als Einstieg in die Politik

Mit dieser Ansicht war Probst nicht alleine. Er bekam Zustimmung von Benedikt Fincke, Pressesprecher des Bremerhavener Jugendparlaments (JUPA): „Die Stadtverordneten sollten mehr an die Menschen herangehen.” Benedikt Fincke und Rojin Delal Karakaya, stellvertretende Sprecherin Jugendparlaments, erläuterten, wie Politik bei den 14- bis 17-Jährigen funktioniert: in Arbeitsgruppen. Die Jugendlichen hätten sich für die Arbeitsgruppe entschieden, die sie interessiere. In einem Jahr, so die Vorstellung, möchten sich die Mitglieder des Jugendparlaments in die kommunalpolitischen Debatten einmischen.

Rojin Delal Karakaya, die auch Schülersprecherin am Lloyd Gymnasium ist, gab den Parlamentarier*innen mit auf den Weg: Politikunterricht dürfe nicht erst ab der 9. Klasse stattfinden. Sie forderte das Fach bereits „ab der 6. oder 7. Klasse“. Beide JUPA-Vertreter*innen  befanden, dass junge Leute sich viel zu wenig für Politik und die Prozesse dahinter interessierten und diese verstünden – eine Erfahrung, die im Übrigen alle Stadtverordneten in Bremerhaven gemacht haben.

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