Oberbürgermeister, Parteivorsitzender, Minister

Trauerfeier für Hans-Jochen Vogel: Abschied von einem akribischen Kämpfer

Benedikt Dittrich03. August 2020
SPD-Parteitag in Nuernberg . v.l. Hans-Jochen Vogel , Johannes Rau und Willy Brandt. Deutschland trauert um den Sozialdemokraten Hans-Jochen Vogel.
Deutschland trauert um den Sozialdemokraten Hans-Jochen Vogel. An der Trauerfeier in München nahmen auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder sowie Justizministerin Christine Lambrecht teil. Auch Vogel selbst hatte eine Botschaft.

Als Lieselotte Vogel die Bühne betritt, haben schon drei Politiker*innen vor ihr gesprochen, haben ihres verstorbenen Mannes Hans-Jochen Vogel gedacht, sein politisches Wirken gewürdigt. Und doch schafft sie es, mit gebrochener Stimme und zittrigen Händen, in nur wenigen Worten noch einmal zu auf den Punkt zu bringen, was ihren Ehemann ausgemacht hat.

„Hans-Jochen Vogel wäre nicht er selber gewesen, hätte er ohne geordneten Abschied diese Welt verlassen“, sagt sie, bevor sie einen Zettel auseinanderfaltet. Ihr Mann habe wenige Tage vor seinem Tod noch seinem Sohn eine persönliche Erklärung diktiert, sagt sie, während es im Mikrofon raschelt. „Mit großer Anstrengung“, wie sie erklärt, mit genauen Anweisungen, an welche Personen diese Erklärung verschickt werden sollte. „Ich meine, es wäre in seinem Sinne, diese Trauerfeier mit seinen Worten zu beenden“, sagt sie und beginnt zu lesen.

Abschied mit persönlicher Erklärung

In seiner persönlichen Erklärung schreibt Hans-Jochen Vogel, dass er „zu seinem Bedauern“ aufgrund seiner „gesundheitlichen Verhältnisse“ seine politische Arbeit nicht mehr fortsetzen könne. Deswegen würde er nun alle politischen Ehrenämter aufgeben und auch seine sonstige politische Tätigkeit einstellen. Er nennt auch nochmal seine politischen Vorbilder Helmut Schmidt, Willy Brandt, Herbert Wehner sowie Waldemar von Knöringen, bevor er zum Abschluss noch ein paar mahnende Worte an die richtet, die diese Erklärung empfangen haben – und die nun Lieselotte Vogel auch der Trauergesellschaft vorträgt: „Sorgen sie dafür, dass Deutschland bleibt, wofür wir gekämpft haben.“ Datiert ist die Erklärung mit dem 20. Juli 2020 – sechs Tage vor seinem Tod.

Es sind die letzten Worte eines Sozialdemokraten, der ein halbes Jahrhundert erst die Politik in München, später die der ganzen Bundesrepublik mit geprägt hat. Als Oberbürgermeister der bayerischen Landeshauptstadt, später als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, als Parteivorsitzender in der Nachfolge von Willy Brandt, auch als Bundesminister in wechselnden Arbeitsbereichen. Er war sogar – darauf weist am Montag auch der jetzige SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans hin – nacheinander Bürgermeister von zwei Landeshauptstädten. Denn auch Berlin regierte er 1981 für ein paar Monate.

Ein Kämpfer für die Gerechtigkeit

Hans-Jochen Vogel dürfte als Mahner in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen. Als einer, der immer wieder nachfragte, akribisch und kritisch einhakte – das wurde sowohl aus den Worten von Norbert Walter-Borjans als auch aus den von Dieter Reiter, Münchens amtierender Oberbürgermeister, deutlich. Und als einer, der mit Leidenschaft und Überzeugung kämpfte. Der regelmäßige Austausch mit seinem Vorgänger war, so Reiter, „immer wieder beeindruckend für mich“. Sein letztes Buch, in dem Vogel einmal mehr mehr soziale Gerechtigkeit, bezahlbares Wohnen fordert, sei in jeder Hinsicht ein Vermächtnis.

„Durch seine Arbeit ist unsere Stadt zu einer weltoffenen, modernen, offenen, liebenswürdigen Metropole gewonnen“, erinnert Reiter, allein während Vogels Amtszeit als Oberbürgermeister von München von 1960 bis 1972 wuchs die Stadt um 300.000 Menschen. Dass die olympischen Spiele 1972 dort stattfinden konnten, U- und S-Bahnen gebaut wurden – all das führt Reiter auf das Wirken seines Vorgängers zurück.

Politik-Prominenz erweist Vogel die letzte Ehre

Welche Ehre dem Sozialdemokraten von den aktiven Politiker*innen zuteil wurde, machte sich bei der Trauerfeier in München auch in kleinen Gesten, kurzen Sätzen bemerkbar – oder allein durch Anwesenheit: So bedankt sich beispielsweise Norbert Walter-Borjans, dass er bei der Trauerfeier sprechen darf, verbeugt sich im Anschluss vor dem Porträt des früheren Parteivorsitzenden. Neben Walter-Borjans nehmen außerdem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken, Vizekanzler Olaf Scholz, Familienministerin Franziska Giffey, Justizministerin Christine Lambrecht, Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sowie zahlreiche weitere Bundes-, und Landespolitiker*innen der SPD an der Trauerfeier in der Münchner Philharmonie im Gasteig teil.

Dass Hans-Jochen Vogel sich auch im hohen Alter noch um die politische Entwicklung in Deutschland sorgte, erklärt seine Weggefährtin Gertraud Burkert, die ehemalige zweite Bürgermeisterin von München. Sein Denken war geprägt von sozialer Verantwortung, betont sie: „Er wollte keine Gesellschaft, in der Menschen ausgegrenzt werden.“ Immer wieder habe er gefragt, was wir alle tun könnten, um dies zu verhindern. „Heute muss man fast sagen, abzuschwächen“, sagt Burkert mit Blick auf die aktuelle Entwicklungen in Deutschland. „Leider war es uns nicht mehr möglich, mit ihm noch über Corona zu sprechen, aber vielleicht hätte Hans-Jochen gehofft, dass die Menschen vernünftiger werden in Zukunft, weniger agressiv, weniger unsozial.“

Mit Blick auf den erstarkenden Antisemitismus und Rassismus habe er sich nie gefragt, was die Politik, die anderen versäumt hätten, beschrieb Burkert das Verantwortungsbewusstsein von Hans-Jochen Vogel. Vielmehr habe er gefragt: „Was haben wir versäumt, dass dies passieren konnte?“

Hans-Jochen Vogel starb im Alter von 94 Jahren

Hans-Jochen Vogel hat über Jahrzehnte die Bundespolitik und die Sozialdemokratie in Deutschland und Europa geprägt – er folgte 1987 an der Spitze der SPD auf Willy Brandt. Zeit seines Lebens widmete er sich vor allem der Gerechtigkeit in der Gesellschaft, setzte sich für Frauen innerhalb und außerhalb der Partei ein sowie eine sozial gerechte Wohnungspolitik und Stadtentwicklung. Er starb im Alter von 94 Jahren am 26. Juli in München nach langer Krankheit.

Bereits am Freitag hatten Angehörige und Freunde im kleinen Kreis in München Abschied von Hans-Jochen Vogel genommen. Die Trauerfeier fand in der Philharmonie im Gasteig in München statt.

Der Artikel ist zuerst auf vorwaerts.de erschienen.

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