Interview mit Judith Strohm von „Willkommen bei Freunden“

„Unterschätzt das Ehrenamt nicht!“

Carl-Friedrich Höck04. Oktober 2017
Die damalige Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) besucht im August junge Geflüchtete aus dem Hessischen Maintal. Das „Maintaler Bündnis für junge Geflüchtete“ wird von „Willkommen bei Freunden“ unterstützt.
Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung setzt das Bundesprogramm „Willkommen bei Freunden“ seit dem Jahr 2015 um, um Menschen in Kommunen, die sich für geflüchtete Kinder, Jugendliche und Familien einsetzen, zu unterstützen. Aktuell werden ungefähr 180 Kommunen erreicht. Judith Strohm, die Leiterin des Programms, spricht im Interview darüber, wie Akteursnetzwerke vor Ort besser koordiniert und bestehende Integrationskonzepte überarbeitet werden können.
Judith Strohm

Das Bundesprogramm „Willkommen bei Freunden“ wird seit 2015 von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung umgesetzt, gefördert durch das Bundesfamilienministerium. Mit welchem Zweck?

Das Programm unterstützt Menschen in Kommunen, die sich für geflüchtete Kinder, Jugendliche und Familien einsetzen. Wir machen ein Angebot für Haupt- und Ehrenamtliche. Uns geht es darum, sehr heterogene Akteurs-Netzwerke an einem Tisch zu versammeln und ihre Arbeit zu begleiten. Dabei liegt es an den Menschen vor Ort zu entscheiden, welche Themen sie in den Mittelpunkt rücken möchten. Das können etwa Betreuungsangebote im frühkindlichen Bereich für geflüchtete Kinder sein oder die Gestaltung des Übergangs von der Schule in den Beruf für junge Geflüchtete.

Wie funktioniert das konkret?

Wir haben sechs regionale Servicebüros, die jederzeit von Kommunen angefragt werden können. Und wir schnüren ein Paket aus Unterstützungsmöglichkeiten, das ganz eng am Bedarf der jeweiligen Kommune ausgerichtet ist. Zunächst besteht es aus Analyseworkshops, die zeigen: Was sind die Themen und Ziele vor Ort? Sind alle relevanten Akteure schon am Tisch oder müssen wir den Kreis erweitern? Im nächsten Schritt können wir eine Vernetzung mit anderen, ähnlich gelagerten Kommunen organisieren oder passgenaue Fortbildungsveranstaltungen. Zudem können wir eine Prozessbegleitung anbieten, für die wir auch externe Fachkräfte einsetzen.

Für die Kommunen ist das komplett kostenlos?

Genau.

Wieviele Kommunen machen bisher mit?

Wir erreichen aktuell insgesamt ungefähr 180 Kommunen bundesweit.  In 60 dieser Kommunen wurde ein Bündnis gegründet. In den übrigen Kommunen wollten sich die Akteure nicht gleich auf eine mittelfristige verbindliche Zusammenarbeit in einem Bündnis einlassen und haben erst einmal Fortbildungen z.B. zur interkultruellen Öffnung von Verwaltungen in Anspruch genommen oder an einer Hospitation teilgenommen.

Was sind denn die Kernpunkte eines Bündnisses?

Mindestens drei Partner tun sich zusammen. Davon muss mindestens einer der öffentlichen Hand angehören – das ist in der Regel das Jugendamt, es können aber auch Landräte oder kommunale Koordinatoren sein. Die drei Partner sollten willens sein, sich auf einen Prozess einzulassen, der mindestens ein Jahr, oft eineinhalb dauert. Ein externer Coach nimmt sich der Situation vor Ort an, entwickelt gemeinsam mit den Akteuren vor Ort Fragestellungen, die dann innerhalb des Prozesses beantwortet werden. Das ist der Kerngedanke.

Dazu wird dann immer wieder geschaut: Wo stehen die Akteure und was brauchen sie noch? Gibt es einen Bedarf an Fortbildungen? Können wir uns etwas bei einer anderen Kommune abschauen, die von ähnlichen Fragestellungen getrieben ist? Wir nutzen unser Programmnetzwerk, um das zu organisieren.

Infografik

Können Sie das an einem konkreten Beispiel veranschaulichen?

Wenn Kommunen bestehende Integrationskonzepte überarbeiten, wird das Thema Partizipation immer wichtiger. Einen spannenden Prozess hatten wir zum Beispiel in Lüneburg. Dort wollen die kommunal Verantwortlichen hören: Was sind eigentlich die Anliegen der jungen Geflüchteten? Mit Hilfe unseres Programmes wurde dort eine Gruppe von Jugendlichen  – mit und ohne Fluchtgeschichte – begleitet. Im Frühjahr 2017 organisierten diese Jugendlichen einen Kongress mit 80 jungen Menschen. Sie haben sich Gedanken gemacht: Wie stellen sie sich integrative Jugendarbeit vor? Was sind ihre Ideen, Aktivitäten des Miteinanders zu schaffen, wo man sich kennenlernen kann, wo junge Menschen ihren gemeinsamen Interessen nachgehen können? Vielfältige Ideen wurden entwickelt, von gemeinsamen Festen über interkulturelle Stadtspaziergänge bis zur Entwicklung einer App, die Angebote für junge Menschen in Lüneburg verbreiten könnte.

Als die Ergebnisse vor Verantwortlichen der Stadt präsentiert wurden, haben die gesagt: Auf solche Ideen wären wir so nie gekommen. Partizipation hilft auch, die knappen Ressourcen an Personal und Gütern effizient einzusetzen. Inzwischen wurden die jungen Menschen vom Bereich Asyl und Integration der Stadtverwaltung nochmals eingeladen und eine Mitarbeiterin fungiert als verlässliche Ansprechperson der Jugendinitiative.

Das Programm läuft noch bis 2018. Zeichnet sich schon ab wie es danach weitergeht?

Wir hoffen auf eine baldige Regierungsbildung, so dass wir mit der neuen Hausspitze des Bundesfamilienministeriums über das bisher Erreichte und die mögliche weitere Ausgestaltung sprechen können.

Welches Zwischenfazit ziehen Sie nach zwei Jahren? Haben sich die Ansätze bewährt oder muss nachgesteuert werden?

Beim Programmstart 2015 stand in vielen Kommunen die Nothilfe im Vordergrund. Das hat sich grundlegend geändert. Unsere Kernthemen, Bildung und gesellschaftliche Teilhabe junger Menschen mit Fluchterfahrungen, stehen an vielen Orten auf der Agenda.

Entsprechend hoch ist die Nachfrage nach unseren Angeboten und wir freuen uns, wenn sie weiter hoch bleibt. Noch läuft unser Programm. Jetzt wäre also ein guter Zeitpunkt für Kommunen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Die bewährten Ansätze unserer Arbeit bereiten wir kontinuierlich auf. Auf unserer Website finden sich Einblicke in zahlreiche Praxisbeispiele, die Aufbereitung von Fachthemen sowie eine Toolbox, in die unsere Erfahrungen zur Steuerung von Veränderungsprozessen in den Kommunen einfließen.

Sie wollen Kinder und Jugendliche beim „Ankommen“ in Deutschland unterstützen. Was sind dabei die größten Herausforderungen und welche Klippen gilt es zu umschiffen?

Die geflüchteten Kinder und Jugendliche sind in erster Linie einfach Kinder und Jugendliche. Natürlich ist die Flucht eine einschneidende und tief prägende Erfahrung. Zugleich ist sie aber nur eine Episode. Die Kinder und Jugendlichen sehnen sich hier nach Normalität, sie wollen Freundschaften schließen und dazugehören. Oft geht es um die Frage: Wo finde ich Orte, um deutsche Freunde zu finden? Das kann ein Bolzplatz sein oder ein Jugendzentrum. Solche Orte müssen wir öffnen und inklusive Angebote machen.

Ein großes Thema ist natürlich auch die Bleibeperspektive. Wenn beispielsweise unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten mit der Volljährigkeit die Abschiebung droht, ist das oft nicht nur ein herber Schlag für sie selbst. Es führt auch zu Frust und Ohnmacht bei denen, die tagtäglich mit ihnen arbeiten und sich für sie einsetzen. Da müssen wir die Kontakte zwischen Jugendamt, Ausländerbehörde und ausbildenden Unternehmen noch verbessern. Wir müssen früher Perspektiven schaffen und verbindliche Absprachen treffen.

Haben die Akteure des Programms in den vergangenen zwei Jahren selbst etwas hinzugelernt, dass Sie an andere weitergeben möchten?

An die Politik und Verwaltung gerichtet: Unterschätzt das Ehrenamt nicht! Das Wort Willkommenskultur war 2015 in aller Munde, heute ist es nicht mehr so präsent. Aber es gibt viele Ehrenamtliche, die bei der Stange geblieben sind: Sie helfen bei der Freizeitgestaltung, gestalten Deutschkurse, ermöglichen Orientierung. Das ist ein gewaltiges Pfund. Wenn es den Verantwortlichen in der kommunalen Politik und Verwaltung gelingt, eng mit den Ehrenamtlichen zusammenzuarbeiten, ihr Engagement wirklich wertzuschätzen, dann kann nicht nur für die geflüchteten Menschen, sondern für die gesamte Kommune viel bewegt werden.

Eine zweite Erfahrung: Wir müssen uns noch mehr Gedanken dazu machen, wie Geflüchtete sich selbst engagieren können. Wenn Jugendliche sich ehrenamtlich einbringen, können sie Erfahrungen sammeln, die ihnen später helfen einen Job zu finden. Und es gibt diejenigen, die bereits gut Deutsch sprechen und eine Brückenfunktion wahrnehmen können. Auch da spielt das Ehrenamt eine große Rolle.

Die AfD ist mit fast 13 Prozent in den Bundestag eingezogen. Was bedeutet so ein Wahlergebnis für Ihre Arbeit?

Das Ergebnis spiegelt wieder, was sich schon länger abzeichnet – eine fatale Entwicklung. Ich glaube, dass diejenigen, die haupt- oder ehrenamtlich mit Geflüchteten arbeiten, noch ein Stück enger zusammenrücken werden.

Unser Programm hat bereits zahlreiche Dialogveranstaltungen organisiert. Meine Erfahrung ist: Kontakt ist kein Zaubermittel, aber er hilft. Dem „sprechen über“ Geflüchtete begegnen wir mit Dialogformaten „gemeinsam mit“ Geflüchteten. Wir brauchen Orte der Begegnung, wo nicht nur Geflüchtete und ihre Unterstützer miteinander ins Gespräch kommen. Das war schon immer Teil des Programms. Vielleicht wird dieser Aspekt unserer Arbeit jetzt wieder an Bedeutung gewinnen.