Lebenslang und Freispruch

Wieso das Urteil im Lübcke-Prozess fast niemanden zufrieden stellt

Joachim F. Tornau29. Januar 2021
Justizia: Das Urteil im Lübcke-Prozess wurde am Donnerstag verkündet.
Lebenslang für den Hauptangeklagten Stephan E., weitgehender Freispruch für seinen rechtsextremen Kameraden Markus H.: Das Urteil im Prozess um den Mord an Walter Lübcke war keine Überraschung. Der Prozess wird wohl in die Fortsetzung gehen.

Als die Verfahrensbeteiligten nach der Urteilsverkündung vor die Fernsehkameras traten, wollten nur zwei von ihnen auf jegliche Kritik verzichten. „Wie sie sich vorstellen können, sind wir zufrieden mit dem Urteil – und befriedigt, dass es hier rechtsstaatlich abgelaufen ist“, sagte Björn Clemens, strahlend wie seine neben ihm stehende Verteidigerkollegin Nicole Schneiders. Die beiden Szene-Anwälte hatten im Prozess um den rechtsextrem motivierten Mord an Walter Lübcke den mitangeklagten Neonazi Markus H. vertreten. Und den hatte der Staatsschutzsenat des Frankfurter Oberlandesgerichts gerade sehr glimpflich davonkommen lassen. Wegen des Besitzes einer nicht hinreichend unbrauchbar gemachten Maschinenpistole verurteilte es den 44-Jährigen am Donnerstag zu einer Bewährungsstrafe von anderthalb Jahren. Vom Hauptvorwurf der Beihilfe zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten aber sprach das Gericht Markus H. frei.

„Das ist für die Familie sehr schwer zu verkraften.“

Was die Verteidiger des langjährigen rechtsextremen Aktivisten so zufrieden dreinschauen ließ, löste bei den Angehörigen des getöteten CDU-Politikers, die bis zuletzt sogar an eine direkte Tatbeteiligung von Markus H. geglaubt hatten, Enttäuschung aus. „Ausgesprochen schmerzlich“, nannte Dirk Metz, Sprecher der Familie Lübcke, den Freispruch. „Das ist für die Familie sehr schwer zu verkraften.“ Überraschend allerdings war die In-dubio-pro-reo-Entscheidung – im Zweifel für den Angeklagten – nicht gekommen. Spätestens seit Markus H. im Oktober aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, war klar, dass das Gericht den immer massiver werdenden Beschuldigungen, die der Hauptangeklagte Stephan E. gegen seinen einstigen Freund und rechtsextremen Kameraden vorbrachte, wenig Glauben schenken würde. Und dabei blieb es nun auch im Urteil.

Von den mindestens drei verschiedenen Tatversionen, die Stephan E. seit seiner Festnahme vorgebracht hatte, erschien dem Senat die allererste am überzeugendsten. Darin hatte sich der 47-Jährige dazu bekannt, den Politiker jahrelang ausgespäht und schließlich am späten Abend des 1. Juni 2019 auf der Terrasse von dessen Haus in Wolfhagen-Istha erschossen zu haben. Aus dem Hinterhalt, ohne Vorwarnung, aus Hass auf Lübckes liberale Haltung in der Flüchtlingspolitik. Und: allein. „Die Angaben sind im Gegensatz zu seinen späteren Angaben detailreich, lebhaft, anschaulich und in sich stimmig“, sagte der Senatsvorsitzende Thomas Sagebiel. Markus H. kam in diesem ersten Geständnis nur am Rande vor. Dass er, wie die Bundesanwaltschaft meint, den Tatentschluss seines Gesinnungsgenossen Stephan E. durch Hetzreden gegen Lübcke, durch gemeinsame Schießtrainings und Besuche von AfD-Kundgebungen befördert hat, hält das Gericht vor allem deshalb nicht für erwiesen.

Eine Haftentlassung nach 15 Jahren ist so gut wie ausgeschlossen

Als heimtückischen Mord aus niedrigen – nämlich: rechtsextremen und rassistischen – Beweggründen stufte der Senat den Anschlag auf den Regierungspräsidenten ein. Lebenslang soll Stephan E. deshalb ins Gefängnis. Und das ist in diesem Fall durchaus wörtlich zu verstehen: Weil das Gericht die besondere Schwere der Schuld feststellte, ist eine Haftentlassung nach 15 Jahren so gut wie ausgeschlossen. Zudem behielt sich der Senat die anschließende Verhängung von Sicherungsverwahrung vor.

Freigesprochen wurde Stephan E. jedoch vom zweiten Tatvorwurf, dem rassistischen Mordversuch an dem irakischen Flüchtling Ahmed I. Der 27-Jährige war am 6. Januar 2016 auf offener Straße in Lohfelden bei Kassel von einem Fahrradfahrer niedergestochen und schwer verletzt worden. „Es kann sein, dass Herr E. der Angreifer war“, wandte sich Richter Sagebiel direkt an das Opfer. „Aber wir wissen es nicht.“ Denn es bestünden „ernstliche Zweifel“, dass ein beim Angeklagten sichergestelltes Klappmesser tatsächlich die Tatwaffe gewesen sei. Vor allem, weil eine Kaufquittung dafür spreche, dass Stephan E. das Messer erst nach der Tat gekauft habe. Auch hier also: in dubio pro reo.

Bei Ahmed I. traf das auf völliges Unverständnis. „Wir wissen alle, wer der Täter war. Nur das Gericht weiß das nicht“, sagte der junge Mann in einer emotionalen Erklärung. „Ich bin sehr traurig, da ich in Deutschland nun zum zweiten Mal einen Verrat erleben musste.“ Angekündigt hatte sich freilich auch dieser Freispruch bereits vor einigen Wochen, als der Senat jegliche weitere Beweisaufnahme zu dem Messerangriff unter Verweis auf den überraschend aufgetauchten Kaufbeleg abgelehnt hatte.

Den richtigen Ton knapp verfehlt

Insgesamt rund drei Stunden dauerte die Urteilsbegründung, betont nüchtern, ohne jegliche historische oder politische Einordnung, rein juristisch. Die direkte Ansprache an Ahmed I. war einer der wenigen Momente, in denen Sagebiel vom vorformulierten Text abzuweichen schien. Zuvor hatte er sich auch an die Familie Lübcke gewandt und dabei, nicht zum ersten Mal in diesem Prozess, den richtigen Ton knapp verfehlt. „Wir wissen, dass das Verfahren für Sie schwer und schmerzhaft war“, sagte der Senatsvorsitzende, um kurz darauf wenig empathisch nachzuschieben: „Das Verfahren war auch für uns schwer, das können Sie uns glauben.“

Begleitet wurde dieser 45. und letzte Verhandlungstag von mehreren Kundgebungen: Antifaschistische Gruppen, aber auch Schüler*innen der Gesamtschule in Wolfhagen, die seit dem vergangenen Jahr nach Walter Lübcke benannt ist, drückten ihre Solidarität aus und forderten weitere Aufklärung. Das letzte Wort in diesem Verfahren ist indes wohl noch nicht gesprochen. Sowohl Ahmed I. als auch die Familie Lübcke behalten sich vor, Revision gegen das Urteil einzulegen. Bereits sicher weiß das die Bundesanwaltschaft, die beide an diesem regnerischen Frankfurter Vormittag ergangenen Freisprüche für falsch hält. „Es steht fest“, sagte Oberstaatsanwalt Dieter Killmer, „dass wir zum Bundesgerichtshof gehen.“

Dieser Artikel ist zuerst auf vorwärts.de in Kooperation mit „Blick nach rechts” (bnr.de) erschienen.

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