Medizinische Versorgung

Auf dem Weg zur digitalen Patientenakte

Uwe Roth19. Juli 2019
Dicke Akten sind Vergangenheit: ein mobiler Visitenwagen im Krankenhaus Bietigheim.

Auf den Fluren des Krankenhauses sind sie immer häufiger zu sehen: Menschen im weißen Kittel, die auf ihr iPad starren. Doch daraus sollten Patientinnen und Patienten keine falschen Schlüsse ziehen. Die Mediziner googeln nicht ihren nächsten Urlaub. Sie studieren vielmehr die Akte eines Patienten. Sie verfolgen auf dem Display die Fieberkurve, schauen nach den in einer zentralen Datenbank abgelegten Blutdruck- und Pulswerten. Oder sie verschreiben online ein Medikament. Das Klemmbrett mit handschriftlich ausgefüllten und häufig schwer lesbaren Formularen hat ausgedient.

Mobiler Visitenwagen

Der mobile Visitenwagen ist papierfrei. Stattdessen steht darauf ein Notebook. Arzt und Ärztin haben ihr iPad in der Tasche. Die Zeiten sind vorbei, als sie mit der Visite nicht beginnen konnten, weil die dicke Mappe mit allen wichtigen Patientendaten irgendwo im Haus liegengeblieben war.

Vorteile für Verwaltung und Patient

Das Krankenhaus Bietigheim, 25 Kilometer nördlich von Stuttgart, ist ein ­Pilotfeld für die Einführung der digitalen ­Patientenakte. Das 400-Betten-Haus gehört zur Regionalen Kliniken Holding (RKH). Der Klinikverbund verteilt sich über drei Landkreise und wird federführend vom Landkreis Ludwigsburg geführt. Mit 2.600 Planbetten ist die RKH, die 7.700 Menschen beschäftigt, die größte kommunale Krankenhaus­gesellschaft in Baden-Württemberg.

Wie in allen kommunalen Aufsichtsgremien wird im Kreistag in den Beratungen zum Haushalt jährlich strittig diskutiert, wie viel Geld der Klinikbetrieb kosten darf, um den Haushalt nicht überzustrapazieren. 2017 lag der finanzielle Ausgleich bei zwei Millionen Euro. Das ist nicht viel für die vier Klinik­standorte im Landkreis. Andererseits plant die Holding für deren Modernisierung in den kommenden Jahren Investitionen von 200 Millionen Euro, um im scharfen Wettbewerb zu überleben. Manches Kreistagsmitglied schluckt zweimal, bevor es seine Zustimmung für die Ausgaben gibt. Die konservativen Fraktionen fordern gelegentlich die Privatisierung. Aber das ist eher Drohkulisse, um die Wünsche der Klinikdirektoren im Zaum zu halten.

Kessing: „Können Vollversorgung anbieten“

Für Jürgen Kessing kommt jedenfalls nicht in Frage, die Kliniken einem privaten Unternehmen zu überlassen. Der 62-Jährige ist Vorsitzender der SPD-Kreistagsfraktion und stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats der Klinik-Holding. Vor allem ist er Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen, der Stadt, in der das Pilotprojekt zur Digitalisierung der Patientenakte stattfindet. „Wir haben das Glück, unseren mehr als 43.000 Einwohnern eine Vollversorgung vor Ort anbieten zu können“, stellt er fest. Die digitalisierte Akte bringt nach seiner Überzeugung nicht nur der Verwaltung Vorteile, sondern auch Patienten. Für sie verkürze sich die Wartezeit zwischen den Untersuchungen.

Das akademische Lehrkrankenhaus hat 14 Fachabteilungen, in denen jährlich 50.000 Fälle ambulant und stationär behandelt werden. Für Kessing kommt eine Privatisierung schon deswegen nicht in Frage, weil im kommunalen Krankenhaus sichergestellt sei, dass die knapp 900 Beschäftigten tarifgebunden bezahlt werden. Der Kommunalpolitiker bekennt, es sei oftmals ein Balanceakt, sich dem Fortschritt nicht zu verschließen und gleichzeitig den Schuldendienst im Blick zu behalten. Im Kreistag sei trotz der vorgetragenen Vorteile über die Digitalisierung heftig gestritten worden. Von SPD-Seite sei insbesondere der Umgang mit den sensiblen Patienten­daten kritisch hinterfragt worden.

Aufwendige Schulungen

Junger, der neuen Technik zugewandter Klinikleiter: Nicolai Stolzenberger. Foto: Uwe Roth

Nicolai Stolzenberger ist seit mehr als einem Jahr Leiter der Klinik. Mit seinen 30 Jahren ist er neuen Techniken gegenüber aufgeschlossen. Papierstapel auf dem Schreibtisch gehören bei ihm nicht zum Workflow. „Datenschutz war für uns selbstverständlich ein zentrales Thema“, versichert er. Die Ausgabe­geräte hängen an einem geschlossenen WLan-Netz ohne Zugang zum Internet. Die Patientendaten lagern auf einem klinikeigenen Server und nicht in einer Cloud. Die Technik sei weniger die Herausforderung gewesen. Die Hardware ist Standard und die Software schon länger auf dem Markt. Aufwendig ist die Schulung der vielen Mitarbeiter mit ihren unterschiedlichen Vorkenntnissen, wie man mit einem Computer umgeht. Stolzenberger hat festgestellt, dass alle – egal ob Pflege- oder medizinische Kraft – dem Neuen sehr aufgeschlossen seien und das Gelernte umgehend in die Praxis umsetzten.

Der Klinikleiter sieht eine Vielzahl von Nutzen: Wenn das Projekt beendet ist und alle Krankenhäuser des Verbunds mit der Technik ausgerüstet sind, ist die personalaufwendige Archivierung der handschriftlich geführten Patienten­akten über Scanner hinfällig. An erster Stelle steht für ihn aber, dass Behandlungsfehler vermieden werden. Die passieren, weil eine Handschrift falsch gelesen wird. Eine Eintragung in die digitale Patientenakte ist im Gegensatz zur Arztschrift immer eindeutig.