Blickpunkt

Wege zur Umweltgerechtigkeit

Carl-Friedrich Höck03. Juli 2018
Tafeln im Rathaus Schöneberg
Tafeln im Rathaus Schöneberg illustrieren die Mehrfachbelastungen in Berlin.
Ärmere Menschen leben oft in Quartieren, die krank machen. Das Konzept „Umweltgerechtigkeit” soll dies ändern und den Blick für das Problem schärfen. Berlin, Kassel, Marburg und München erproben, wie das Thema in der Verwaltung verankert werden kann. Nun hat das Deutsche Institut für Urbanistik eine Online-Toolbox für Kommunen zum Thema freigeschaltet.

Für Christiane Heiß kommen die Informationen zur rechten Zeit. Die Verkehrsstadträtin des Berliner Bezirks Tempelhof-Schöneberg will schließlich gleich mit Bürgern über „Gesundheitsschutz durch Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen“ sprechen. Ein entsprechender Versuch auf der vielbefahrenden Potsdamer Straße erregt im Bezirk die Gemüter. Vor der Veranstaltung im Schöneberger Rathaus hat die Stadt­rätin Stadtkarten an Pinnwände hängen lassen, auf denen Berlin in kleinteilige, verschieden eingefärbte Lebensräume unterteilt ist.

Ein neuer Blick auf die Stadt

Die erstmals veröffentlichten Karten liefern Heiß Argumente und Fakten für die anstehende Diskussion: Eine stellt die Hitzebelastung in den verschiedenen Straßenzügen dar. Sie ist vor allem in der Innenstadt stark, dort wo alte Gründerzeitbauten die Architektur prägen. Eine weitere Karte illustriert, wo es große Lärmprobleme gibt, eine dritte zeigt die Luftverschmutzung. Die Häuser­züge um Hauptverkehrsachsen wie die Potsdamer Straße sind besonders betroffen, und wieder konzentriert sich das Problem auf die Innenstadt. Die nächsten Darstellungen befassen sich mit der Gesundheit und mit dem sozialen Status der Bevölkerung. Schließlich steht Christine Heiß vor den letzten Tafeln. Dort werden alle Aspekte zu einer „integrierten Mehrfachbelastung“ zusammengefasst. Deutlich wird: Es gibt Kieze, in denen sich die Probleme häufen, die in drei, vier oder gar fünf Kategorien gleichzeitig besonders schlecht abschneiden.

Erarbeitet wurden die Karten vom Berliner Senat. Christiane Heiß (Grüne) sagt, dem Bezirk helfe das Datenmaterial dabei, kommunalpolitische Prioritäten zu setzen. Der Titel der Dokumentation, aus der das Kartenmaterial stammt: „Umweltgerechtigkeit im Land Berlin.“

Diesen Begriff definiert das Umweltbundesamt (UBA) in einer Broschüre aus dem Jahr 2016 so: „Umweltgerechtigkeit zielt auf die Vermeidung und den Abbau der sozialräumlichen Konzentration gesundheitsrelevanter Umweltbelastungen sowie die Gewährleistung eines sozialräumlich gerechten Umgangs zu gesundheitsbezogenen Umweltressourcen.“ In der kommunalen Praxis sei das Thema jedoch noch kaum angekommen.

Drei Pilotkommunen

Genau das möchte das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) ändern. Mit dem im Jahr 2012 gestarteten Forschungsprojekt „Umweltgerechtigkeit im städtischen Raum“ hat das Institut Handlungsempfehlungen erarbeitet, wie Kommunen das Ziel Umweltgerechtigkeit strategisch in der Verwaltung verankern können. Seit 2015 läuft das Nachfolgeprojekt „Umsetzung einer integrierten Strategie zu Umweltgerechtigkeit“. Hierfür wurden drei Kommunen ausgewählt, in denen die Ansätze erprobt werden: Marburg, Kassel und München. Das Umweltbundesamt fördert das Projekt mit 300.000 Euro. (Mehr dazu: Interview mit UBA-Präsidentin Maria Krautzberger.)

Thomas Preuß
Thomas Preuß. Foto: Difu

„Beim ersten Projekt haben wir mit Planspielen gearbeitet“, erklärt Thomas Preuß, Umweltexperte am Difu. „Jetzt geht es darum, die Handlungsempfehlungen zu validieren.“ Dabei werde ausgewertet: Sind die Empfehlungen wirklich handlungsleitend für die Arbeit der Verwaltung? Zu ihrem Inhalt sagt Preuß: „Man braucht von der Kommunalpolitik Rückendeckung, etwa in Form eines Ratsbeschlusses.“ Und dann müsse man schauen, welche Teile der Kommunalverwaltung in welcher Art und Weise von dem Thema Umweltgerechtigkeit berührt sind. „Im besten Fall wird jede Verwaltung befähigt, dieses Querschnittsthema auf ihren Zuständigkeitsbereich anzuwenden. Gleichzeitig besteht der Anspruch, dass die unterschiedlichen Verwaltungsteile zusammenwirken.“ Als Beispiel verweist er auf Flächennutzungs- oder Bebauungspläne: Das Stadtplanungsamt müsse sich frühzeitig mit dem Umwelt- und dem Gesundheitsamt über die Ziele verständigen. Noch laufe es oft so ab, dass ein Planungsamt die Planungen vorantreibt und andere Ämter erst später hinzugezogen werden. Korrekturen seien dann schwer.

Unterschiedliche Ansätze für mehr Umweltgerechtigkeit

Wie das facettenreiche Thema in einer Kommune angegangen werden kann, hängt auch von den lokalen Bedingungen ab. München zum Beispiel ist eine stetig wachsende Millionenmetropole mit großer Verwaltung, die über zahlreiche Daten verfügt. Bereits Ende der 1990er Jahre beschloss der Stadtrat ein Stadtentwicklungskonzept „Perspektive München“, das seitdem immer wieder an aktuelle Entwicklungen angepasst wird. Nun soll auch Umweltgerechtigkeit als Thema in das Leitbild einfließen. Thomas Preuß erklärt: „Das Referat für Umwelt und Gesundheit hat festgestellt: Wir müssen etwas tun in punkto Umweltgerechtigkeit, um die Qualitäten in den Quartieren zu bewahren, die unter hohem Nutzungsdruck stehen.“ Im Rahmen des Pilotprojektes wurde nun eine verwaltungsinterne Arbeitsgruppe aufgestellt, mit Mitarbeitern aus den Referaten für Umwelt und Gesundheit, Stadtentwicklung und Soziales.

Die Landeshauptstadt München hat zehn sogenannte Handlungsräume benannt. Das sind „Hotspots stadträumlicher Veränderung“, wie es auf der Internetseite der Stadt heißt. Für zwei dieser Handlungsräume werden nun Konzepte erarbeitet, die das Thema Umweltgerechtigkeit explizit berücksichtigen: Zum einen das Gebiet rund um den Ostbahnhof, mit den Stadtteilen Ramersdorf und Giesing. „Ein klassisches innenstadtnahes Quartier“, beschreibt es Difu-Experte Preuß. Und zum anderen Neuperlach, ein Soziale-Stadt-Gebiet, das um neue Siedlungen erweitert werden soll. „Es geht darum, das, was an Bebauung neu hinzukommt, und das, was schon besteht, sinnvoll zu verknüpfen“, erläutert Preuß das Ziel. Von Entlastungsmaßnahmen im neuen Gebiet solle auch das bestehende Quartier profitieren.

Monitoring nach Indikatoren

„In München haben sie ganz viele Daten und ein Monitoring nach bestimmten Indikatoren“, beschreibt Preuß die Besonderheit. Ein passendes Indikatoren-Set hat das Difu im Vorgängerprojekt erarbeitet. Basisindikatoren sind demnach die Daten zur sozialen Lage (etwa Anteil der Langzeitarbeitslosen, erwerbstätige Hartz-IV-Bezieher, Jugendarbeitslosigkeit), zur Umweltsituation (Verkehrslärm, Feinstaub und Stickstoffdioxid, Grünflächenversorgung) und zur gesundheitlichen Lage (Übergewicht und Adipositas, grobmotorische Störungen bei Schuleingangsuntersuchungen).

Auch in Kassel entsteht ein datenbasiertes Informationssystem. Laut Preuß wird es bereits in der Verwaltung verwendet. Man erwäge, die Informationen öffentlich zu machen, sodass sich Bürger auf einer Internetplattform über die Zustände in ihrem Quartier informieren können – etwa zu Lärm, Feinstaub, Freiflächen oder ÖPNV-Erschließung. Es sei ein laufender Prozess, „sie verfeinern das stetig weiter“, sagt Preuß.

„Begriff mit analytischem Potenzial”

Dabei kann Kassel als Pilotkommune auf bereits Bestehendes aufbauen, erklärt Anja Starick, die das Umwelt- und Gartenamt der Stadt leitet. Ein Querschnittsziel habe Kassel nämlich auch schon vor der Teilnahme am Difu-Projekt verfolgt: das einer „gesunden Stadt“. Ende 2014 sei dann der Begriff „Umweltgerechtigkeit“ in der Zusammenarbeit der verschiedenen Dezernate – Jugend, Frauen, Gesundheit und Bildung, Stadtentwicklung, Umwelt und Bauen – eingeführt worden. Das Thema „gesundheitsförderliche Lebensbedingungen“ habe man damit besser greifbar machen und in der Verwaltung verankern wollen, sagt Starick. „Hierfür bedurfte es einer gemeinsamen Sprache, konkret eines gemeinsamen Begriffs mit analytischem Potenzial.“ Das Wort Umweltgerechtigkeit habe sich dafür angeboten.

Wie in München werden auch in Kassel zunächst ämterübergreifende Arbeitsstrukturen und Planungsprozesse aufgebaut: Die Dezernate haben sich über gemeinsame Ziele verständigt, in einer Analyse Gebiete mit Mehrfachbelastungen identifiziert, vorhandene Fach- und Gesamtplanungen „auf Anschlussfähigkeit untersucht und besprochen, wie sich Ziele und Maßnahmen für mehr Umweltgerechtigkeit darin abbilden können“, so Starick. Konkrete Maßnahmen in einem Quartier, um Umwelt- und Gesundheitsbelastungen abzubauen, stünden allerdings noch aus.

Marburg baut auf die Ortskenntnisse der Mitarbeiter

Marburg ist mit knapp 75.000 Einwohnern die kleinste der drei Pilotkommunen. „Hier hat man nicht die Masse an Daten und eine kleinere Verwaltung“, sagt Thomas Preuß. Umso wichtiger sei es, die Experten in der Verwaltung ­heranzuziehen, „die ihre Quartiere genau kennen – auch ohne große Datensätze“.

Der Fokus liegt in Marburg auf dem Stadtteil Waldtal mit einer Großwohnsiedlung, die in den 1960er und 70er Jahren am Stadtrand entstanden ist. Hier leben viele Menschen mit geringem Einkommen und Studierende. Ziel der Stadt war es, ein integriertes Entwicklungskonzept zu schreiben. Der Aspekt Umweltgerechtigkeit sollte von Beginn an mitgedacht werden. Auf dieser Grundlage sind Städtebaufördermittel aus dem Bundesprogramm Soziale Stadt beantragt worden. „Was man wissen muss“, sagt Thomas Preuß, „ist, dass seit 2016 Umweltgerechtigkeit auch als Ziel in der Bund-Länder-Vereinbarung über Städtebauförderung verankert wurde“. Damit seien die Bundesländer gehalten, das Thema Umweltgerechtigkeit auch in ihrer Förderpraxis zur Geltung kommen zu lassen. Ein wichtiger Baustein ist in Marburg die Bürgerbeteiligung. Die Stadtverwaltung hat Veranstaltungen organisiert und bei den Bürgerinnen und Bürgern abgefragt: Was wünschen sie sich für ihre Wohnumgebung? Nun plant die Stadt Maßnahmen, die sich womöglich auch auf andere Quartiere übertragen lassen: ein neues Abfallkonzept, eine bessere Nahverkehrsanbindung, eine andere Wohnumfeldgestaltung.

Toolbox für Kommunen

Das Difu begleitet die Prozesse in den drei Pilotkommunen, berät sie und organisiert den Erfahrungsaustausch, zum Beispiel mit Fachveranstaltungen. Berlin war zwar nicht als Pilotkommune beteiligt, doch der Berliner „Atlas der Umweltgerechtigkeit“, an dem die Stadt bereits seit 2008 arbeitet, diente auch für das Difu-Forschungsprojekt als Inspiration. Mit den zahlreichen gesammelten Daten sei das Berliner Vorhaben „ein großer Leuchtturm“, bemerkt Thomas Preuß anerkennend. Ein derart aufwändiges Projekt lasse sich jedoch nur schwer mit den Möglichkeiten in anderen Kommunen vergleichen. Trotzdem zeigt sich nun: Alle Städte finden ihren Weg zu mehr Umweltgerechtigkeit, wenn auch auf verschiedene Weise. Mittlerweile gibt es eine Toolbox für Kommunen, die freigeschaltet ist.

Aktualisiert am 25.02.2019