Interview mit Lisi Maier

„Für eine werteorientierte Demokratie eintreten”

Karin Billanitsch26. Februar 2020
Lisi Maier ist Vorstandsvorsitzende des Deutschen Bundesjugendringes.
Warum Engagement in jungen Jahren besonders wichtig ist und wie die Kommunen Jugendverbandsarbeit unterstützen können, erklärt Lisi Maier vom Deutschen Bundesjugendring. Sie beklagt, dass Jugendverbände Angriffe von rechts erleben.

DEMO: Unsere Gesellschaft braucht Zusammenhalt – doch Teile davon driften auseinander und die politische Polarisierung wächst. Woran liegt das?

Lisi Maier: Wir nehmen natürlich wahr, dass Faktoren wie die klaffende Einkommens- und Vermögensverteilung, die zur Spaltung der Gesellschaft ein Stück weit beitragen, zunehmen. Deshalb ist es wichtiger denn je, sich Gedanken zu machen, wie man vereinende Elemente schafft und der Spaltung entgegenwirkt. Zum Beispiel mit dem gesetzlichen Mindestlohn als einem ersten Schritt, der die weitere Öffnung der Einkommensschere verhindert.

Doch die Gruppe, die das höchste Einkommen und vor allem Vermögen hat, läuft voran, während sich die Mittelschicht weiter auflöst. Wir haben ein Zwei-Klassen-Gesundheitssystem, in Teilen ein Drei-Klassen-Schulsystem – und nach wie vor hängt der Zugang zu Infra­struktur, sozialen und kulturellen Angeboten, zu Arbeitsplätzen und zur Kinder- und Jugendhilfe vom Wohnort ab. Das trägt alles dazu bei, dass man immer weniger Zusammenhalt fühlt. Darüber hinaus gibt es immer mehr Akteure, die durch eine Politik der Ausgrenzung und das Schüren von Vorurteilen und Ängsten das Auseinanderdriften der Gesellschaft verstärken.

In vielen ländlichen Regionen fühlen sich Menschen abgehängt, sind wütend oder frustriert, weil die letzte Bank zumacht oder der Bus seltener fährt. Es gibt eine verschärfte politische Polarisierung und einen Rechtsruck. Was tun?

Es gibt solche und solche ländliche Re­gionen. Ich komme aus einer florierenden ländlichen Gegend in Oberbayern, wo viel auf Tourismus gesetzt worden ist. Aber es gibt auch eine Kehrseite: Grundstückspreise sind unglaublich gestiegen, sehr viele Menschen wollen dort hinziehen. Das ist eine ganz andere Situation als etwa in Brandenburg. Ich nehme auch wahr, dass es ländliche Regionen gibt, die bei weitem nicht so attraktiv sind und wo viele Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu sein. Ungleichwertige Lebensverhältnisse sind nicht nur ein Stadt-Land-Problem, sondern eine Frage der regionalen Unterschiedlichkeit und natürlich auch der Zukunftsperspektiven vor Ort.

Zugleich: Dort wo es eine starke rechte Bewegung gibt, hat das nicht immer etwas mit einem Gefühl des Abgehängt-Seins zu tun. Mich hat überrascht, dass es in meiner Heimat bei den letzten Landtagswahlen Sympathien mit der AfD gab, obwohl in meinem Dorf eine Arbeitslosigkeit von unter zwei Prozent herrscht. Da kann sich eigentlich niemand aufgrund der wirtschaftlichen Lage abgehängt fühlen. Und dennoch gibt es dort ein gewisses Potenzial an AfD-Wählerschaft. Das ist erschreckend. Es tragen mehr ­Dinge dazu bei, ob man die AfD wählt oder nicht.

Ist die Jugendverbandsarbeit Druck von rechts ausgesetzt?

Wir nehmen wahr, dass unsere Verbände aus rechten Milieus angegriffen werden. Das nimmt teilweise dramatische Züge an, etwa in Berlin-Neukölln. Hier sind die Falken, die sozialistische Jugend Deutschlands, immer wieder Angriffen oder Drohungen von rechtsextremistischer Seite ausgesetzt. Und dies betrifft eben nicht nur abstrakt den Verband als Organisation, sondern ganz konkret junge Menschen, die ehrenamtlich Verantwortung übernehmen und sich für andere engagieren. Wir erleben das aber auch im ländlichen Bereich.

Der Deutsche Bundesjugendring hat schon 2016 eine Analyse dazu gemacht. Insbesondere Jugendverbände, die viel Geflüchtetenarbeit machen, berichten von Schmierereien an Fassaden offener Jugendtreffs oder von Drohungen. Bei meinem Verband, dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), gab es nach einer Plakataktion zum christlich-muslimischen Dialog im Südwesten Deutschlands – in einer mittelgroßen Stadt – Morddrohungen gegen Mitarbeitende. Man merkt sehr deutlich, dass sich die Angriffe nicht nur explizit gegen Verbände mit Migrationshintergrund richten, sondern gegen alle, die für eine pluralistische werteorientierte Demokratie eintreten, was für alle Verbände im Deutschen Bundesjugendring zutrifft. Das ist auf alle Fälle schon sehr erschreckend.

Die AfD versucht, über parlamentarische Anfragen und Anträge die Arbeit von Verbänden und freien Trägern zu stören. Haben Sie damit Erfahrungen gemacht?

Der Streit um Neutralität wird aktuell vor allem auf Landesebene geführt, aber auch in größeren Städten. Die Auseinandersetzung ist immer die gleiche. Vorgetragen wird: Wenn man staatliches Geld bekommt, dann würde man auch der Neutralitätspflicht, die für die Staatsorgane gilt, unterliegen. Ich habe bisher nur juristische Gutachten gesehen, die genau das Gegenteil sagen. Die Zivilgesellschaft wird nicht zum Staatsorgan, nur weil sie staatliche Gelder bekommt. Sonst würde unsere Rolle, Interessenvertretung für Menschen in einem pluralen System zu sein, ad absurdum geführt. Nicht zuletzt beschreibt das Kinder- und Jugendhilfegesetz, dass „durch Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse Anliegen und Interessen junger Menschen zum Ausdruck gebracht und vertreten“ werden.
Das Problem ist zudem, dass die Anfragen viele Ressourcen in der Verwaltung binden.

Fördert Engagement im Jugend­bereich den Zusammenhalt, indem Kinder und Jugendliche Gemeinschaft erleben?

Wenn man gemeinsame Erfahrungshorizonte hat und die Möglichkeit, Zusammenhalt zu erleben, wird der Vereinzelung und dem Auseinanderdriften der Milieus ein Stück weit entgegengewirkt. Das funktioniert auch, wenn man aus unterschiedlichen Wertekontexten kommt, vielfältige Erfahrungen und familiäre Hintergründe mitbringt. Kinder und Jugendliche lernen Gleichgesinnte unabhängig von der soziokulturellen ­Situation des oder der Einzelnen kennen. Sie lernen, die demokratische Auseinandersetzung mit anderen Positionen zu führen und Kompromisse zu finden.

Unter dem Dach des Bundesjugendrings sind viele Jugendorganisationen mit unterschiedlichen Zielen. Kann man sagen, dass die Begegnung das Verständnis füreinander fördert?

Ob es jetzt der Bundesjugendring auf Bundesebene, Landesjugendringe in den Bundesländern oder Kreis- und Stadt­jugendringe vor Ort in den Kommunen sind: Es ist ein Begegnungsraum für junge Menschen, die sich gemeinsam im Sinne von Selbstorganisation für die Interessen anderer junger Menschen einsetzen. Es gibt ein breites Spektrum, das von der Landjugend mit Bezug zum ­Bauernverband, über die Gewerkschaftsjugenden, konfessionelle Verbände, Migrantenjugendselbstorganisationen, der Feuerwehrjugend bis hin zur Naturschutz- und der BUND-Jugend reicht.
Dabei kommt es natürlich auch zu gewissen Konflikten. Auf Demonstrationen im Januar auf der Grünen Woche in Berlin stehen sie sich auf verschiedenen Seiten gegenüber. Dennoch schafft man es innerhalb der Strukturen, Positionen z.B. umweltpolitischer Natur zu verabschieden, die so gestaltet sind, dass sie alle mitnehmen.

Sind Jugendverbände eine Art Auslaufmodell, weil sich immer weniger Jugendliche engagieren?

Es gibt Studien, die sich mit dem ehrenamtlichen Engagement von Jugendlichen befassen, zum Beispiel der Freiwilligensurvey, der zuletzt 2015 erschienen ist. Da wurde deutlich, dass junge Menschen ein großes Interesse haben, sich zu engagieren, die Zahl der Ehrenamtlichen sogar leicht ansteigt, aber weniger Zeit für dieses Engagement bleibt. Vor 20 Jahren waren es noch durchschnittlich acht Stunden ehrenamtliches Engagement pro Woche bei den unter 18-Jährigen, heute sind es nur noch zwei. Aber Jugendliche wollen mitmachen, wollen Teil einer Gruppe sein.

Spannend ist auch, dass unterschiedliche Studien zeigen: Junge Menschen engagieren sich am liebsten in ihrem Nah-raum, im kommunalen Bereich. Zwar haben viele eine globale Perspektive – wie „Fridays vor Future“ zeigt – die meisten interessieren sich aber mehr für ihre unmittelbare Umgebung, weil sie da eine hohe Wirksamkeit erfahren und etwas bewegen können. Das ist ein großer Schatz.

Warum ist es überhaupt wichtig, dass sich schon Junge einbringen?

Um eine lebenswerte Gesellschaft für sich zu gestalten. Alle Studien sagen, wie relevant das Engagement in jungen Jahren ist. Die, die es nie getan haben, finden später viel schwerer Zugänge. Das hat viel mit Sozialisation zu tun. Deshalb müssen Kommunen ein so großes Interesse daran haben, Räume, Strukturen und finanzielle Ressourcen bereitzustellen, damit Engagement vor Ort stattfinden kann, weil sie dadurch auch Menschen an sich binden. Jemand, der in jungen Jahren den Ort mitgestaltet und nicht nur scheinbeteiligt wird, der wird auch später ein großes ­Interesse haben, sich einzusetzen und etwas zum Zusammenhalt beizutragen.

Kommunen richten beispielsweise Jugendparlamente ein. Wie sind hier Ihre Erfahrungen?

Wir haben leider die Erfahrung gemacht, dass mit der Bezeichnung „Jugendparlament“ eine sehr breite Palette an Organisationen beziehungsweise Angebote mit ganz unterschiedlichem Zugang gemeint sind. Dahinter stecken nicht immer die besten Beteiligungsformate. Vielfach darf dann ein bisschen beraten, aber nichts entschieden werden. Das ist nicht der Anspruch der Jugendverbände. Sie wollen kein „Probeparlament“ haben, sondern wirklich etwas verändern. Dafür müssten in den jeweiligen Landeskommunalverfassungen Beteiligungsrechte oder Anhörungsverfahren für die Jugend verankert werden. Beispiele für gute Beteiligungsrechte gibt es etwa in Schleswig-Holstein.

Was können Kommunen ganz praktisch beitragen?

Räume für Jugendclubs oder Gruppen zu organisieren, ist immer wieder ein Thema. Die Kommune sollte ein Interesse daran haben, dass es Orte gibt, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenfinden können. Je mehr Zeit Schule im Alltag einnimmt und dort auch Aktivitäten am Nachmittag stattfinden, desto weniger Menschen mit unterschiedlichen Bildungshintergründen lernen sich kennen. Einsparungen in der offenen Kinder- und Jugendarbeit haben sich mit Blick auf das Erstarken rechter Parteien auch schon negativ ausgewirkt. Es gibt Beispiele, wo Nazis Bauwagen für Jugendliche geöffnet haben, nachdem der Jugendtreff weggespart wurde.