Wohnungslosigkeit

„Wichtig ist, dass die Hilfe früh ansetzt”

Carl-Friedrich Höck15. September 2016
Werena Rosenke, BAG W
Werena Rosenke ist stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W).
Die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland steigt rapide. Die Gründe dafür kennt Werena Rosenke, die stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). Im Gespräch mit der DEMO erklärt sie, weshalb Menschen ihre Wohnung verlieren und was Kommunen dagegen tun können.

DEMO: Frau Rosenke, was führt einen Menschen in die Obdachlosigkeit?

Werena Rosenke: Zum einen ist Wohnungslosigkeit eine Frage von Armut. 80 Prozent der Betroffenen sind arbeitslos. Aber nicht jeder Arme verliert seine Wohnung. In den meisten Fällen treffen verschiedene krisenhafte Entwicklungen zusammen: Zur materiellen Not kommt eine schwierige Lebenssituation. Das kann eine Trennung oder Scheidung sein, bei Frauen spielt oft Gewalt in der Familie oder Partnerschaft eine Rolle. Auch psychische Erkrankungen können der Grund für eine persönliche Krise sein.

Dann kann es sehr schnell gehen: Bei zwei Monaten Mietrückstand droht schon eine Kündigung. Viele wissen gar nicht, dass es jetzt noch rechtliche Möglichkeiten gibt, dagegen vorzugehen. Oder ihnen fehlt die Kraft für einen Rechtsstreit und sie räumen die Wohnung einfach, obwohl sie es noch gar nicht müssten.

Auf der materiellen Ebene soll ja eigentlich das ALG II gewährleisten, dass jeder eine Wohnung bezahlen kann. Woran scheitert das System?

Die Kosten der Unterkunft (KdU), die als angemessen gelten, sind in vielen Kommunen zu niedrig bemessen. Das führt dazu, dass viele Menschen nicht die ganze Miete vom Amt bezahlt bekommen, aber trotzdem in der Wohnung bleiben, weil ihr soziales oder familiäres Umfeld daran gebunden ist. Das kann in eine Verschuldungsspirale führen.

Wohin kann sich jemand wenden, dem der Verlust der Wohnung droht?

Die Infrastrukturen für solche Fälle sind in Deutschland sehr unterschiedlich ausgeprägt. Am weitesten ist Nordrhein-Westfalen: Dort gibt es die meisten Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit. Hier werden die Kompetenzen von Ordnungsamt, Sozialamt, Jobcenter und anderen Beteiligten gebündelt. In manchen Gegenden Deutschlands machen die Kommunen aber nicht einmal bekannt, an wen man sich wenden kann. Oder sie leugnen, dass es bei ihnen überhaupt ein Problem mit Wohnungslosigkeit gibt.

Neben den Kommunen gibt es auch viele freie Träger, die Wohnungsnotfallhilfe anbieten – das sind vor allem unsere Mitglieder. Sie organisieren Unterstützung in Beratungsstellen oder leisten aufsuchende Arbeit.

Welche Hilfe ist die beste?

Wichtig ist, dass die Hilfe früh ansetzt. Wir brauchen ein niedrigschwelliges Präventionssystem, dass sich nicht erst aktiviert, wenn jemand mit zwei Monatsmieten im Rückstand ist. Ein wichtiger Faktor ist die aufsuchende Hilfe: Sozialarbeiter die hingehen und schauen was man tun kann, um eine Wohnung zu retten. Bisher ist es oft so, dass ein Amtsgericht das Jobcenter oder eine andere zuständige Stelle informieren muss, wenn eine Räumungsklage wegen Mietschulden vorliegt. Die Stelle schreibt dann den betroffenen Mieter an. Manche Mieter öffnen aber in diesem Stadium ihre Post gar nicht mehr, weil sie zu frustriert sind von den Mahnungs- und Kündigungsschreiben.

Wohnen ist ein Grund- und Menschenrecht. Was folgt daraus für die Kommunen?

Verliert ein Mensch seine Wohnung, hat er Anspruch darauf, von der Kommune ordnungsrechtlich untergebracht zu werden. Insbesondere bei Familien kann es auch vorkommen, dass die Kommune sie ordnungsrechtlich in die bisherige Wohnung einweist – sie wohnt dann weiter dort, nur ohne Mietvertrag. Regional gehen die Kommunen sehr unterschiedlich mit dem Thema um. In Bielefeld wurden die meisten Notunterkünfte in reguläre Sozialwohnungen umgebaut, dort wohnen ehemals Wohnungslose jetzt mit Mietvertrag. Andere Gemeinden beschränken sich auf miese Behelfsunterkünfte, in denen Frauen nicht einmal ihr Zimmer abschließen können und es auch sonst an Standards fehlt.

Ähnlich sieht es bei der weiteren Unterstützung aus. Laut § 67 SGB XII muss „Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind,“ bei der Überwindung dieser Schwierigkeiten geholfen werden, wenn sie dies aus eigener Kraft nicht schaffen können. Konkret heißt das: Betroffene haben ein Recht auf Unterstützung, um zum Beispiel eine Sucht oder eine psychische Erkrankung in Angriff zu nehmen. Diese Hilfsangebote sind aber lokal und regional sehr unterschiedlich aufgestellt. Vor allem in Ostdeutschland ist die Struktur noch ausbaufähig.

Laut der BAG erreicht die Zahl der Wohnungslosen neue Höchststände. 2014 lag sie bei geschätzt 335.000 Menschen – gegenüber der Schätzung für 2012 bedeutet das einen Anstieg um 18 Prozent. Woran liegt das?

Kontinuierlich fallen Wohnungen aus der Sozialbindung, ohne dass neue Sozialwohnungen gebaut oder erworben werden. Bund und Länder haben zahlreiche Wohnungsbaugesellschaften verkauft. Jetzt fehlen die Reserven, um preiswerten Wohnraum zu schaffen. Außerdem gibt es einen großen Mangel an kleinen Wohnungen für Ein-Personen-Haushalte, insbesondere im preiswerten Segment. Diese Probleme treten längst nicht mehr nur in Metropolen und Ballungsräumen auf. Und sie betreffen auch nicht nur Arbeitslose, sondern auch diejenigen, die trotz Arbeit arm sind. Der Verband der Wohnungswirtschaft schätzt, dass wir pro Jahr 400.000 neue Wohnungen brauchen werden, aber nur 270.000 gebaut werden. Und von den 400.000 müssten die Hälfte preiswerte oder Sozialwohnungen sein. Davon sind wir weit entfernt, auch wenn die Politik auf das Problem mittlerweile aufmerksam geworden ist. Der Bund muss noch mehr Verantwortung übernehmen und weitere Sonderförderungsprogramme auflegen.

Diese Probleme sind übrigens schon seit Jahren zu beobachten. Darüber hinaus können wir noch nicht absehen, wie viele der in den vergangenen Monaten zu uns geflüchteten Menschen dauerhaft hier bleiben werden. Manche Wohnungsbaugesellschaften merken jetzt, dass ihre Wohnungen überbelegt sind, weil die Mieter Verwandte bei sich aufgenommen haben. Klar ist, dass wir auch die Geflüchteten nicht alle in der Provinz unterbringen können, wenn es dort nicht genug Arbeitsmöglichkeiten gibt.

Was können Kommunen gegen den Wohnraummangel tun?

Sie können Zweckentfremdungsverbote erlassen, damit Wohnungen nicht in Ferienwohnungen oder Gewerberäume umgewandelt werden oder sogar leer stehen. Sie können Milieuschutzgebiete ausweisen, um preiswerten Wohnraum zu erhalten. Notwendig sind Verdichtungen, zum Beispiel könnte man Parkhäuser mit Wohnungen überbauen. Und wir müssen konsequenter die vorhandenen Möglichkeiten nutzen, preiswerter zu bauen, ohne dass die Standards gesenkt werden. Mit seriellem Bauen könnte man schneller und günstiger Wohnraum schaffen – und ich rede jetzt nicht von Containerbauten.

Und was wünschen Sie sich noch von den Kommunen?

Sie müssen zentrale Anlaufstellen mit einheitlichen und klaren Zuständigkeiten schaffen, an die sich Menschen in Not wenden können. Die präventive Arbeit muss noch mehr gestärkt werden, damit die Betroffenen ihre Wohnung gar nicht erst verlieren. Und Prävention ist oft günstiger, als hinterher die ordnungsrechtliche Unterbringung zu bezahlen.

Außerdem fordern wir als BAG eine Quotenregelung für Sozialwohnungen. Wer einmal wohnungslos geworden ist und eine schlechte Schufa hat, kommt aus dieser Situation kaum wieder heraus, weil er in den Bewerberlisten um preiswerten Wohnraum immer ganz hinten landet. Deshalb wollen wir, dass von neuen Sozialwohnungen immer ein bestimmter Anteil an diese Gruppe vergeben wird.