Ganztagsbetreuung

„Wir wollen als Kommunen nicht am Ende die Zeche für den Ganztagsausbau bezahlen“

Carl-Friedrich Höck22. Juni 2021
Ulrich Mädge (SPD) ist Oberbürgermeister der Hansestadt Lüneburg, Präsident des Niedersächsischen Städtetages sowie Präsident der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA).
Der Bund plant einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. „So geht es nicht“, meint Ulrich Mädge, der Präsident des Niedersächsischen Städtetages. Was er kritisiert, obwohl er den Ganztagsausbau grundsätzlich richtig findet, erklärt er im DEMO-Interview.

DEMO: Der Bundestag hat in der vergangenen Woche einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter (Klassen 1 bis 4) beschlossen. Über den Weg wird viel gestritten. Halten Sie das Ziel grundsätzlich für richtig?
Ulrich Mädge: Das Ziel der Ganztagsbetreuung ist unstrittig und wir Kommunen verfolgen es schon seit Jahren. Wir können mit den Bildungsanstrengungen nicht bei den Kitas aufhören, sondern müssen das bei den Grundschulen fortsetzen. Viele Eltern arbeiten tagsüber. Diese wollen wir unterstützen. Und wer diese Unterstützung nicht anbietet oder in Aussicht stellt, hat einen Nachteil im Wettbewerb der Städte und Gemeinden.

Ein Streitpunkt ist das Geld: Der Bund will pro Jahr knapp eine Milliarde Euro für die höheren Betriebskosten beisteuern, wenn die Schulen ausgebaut sind. Für die Investitionen stellt der Bund 3,5 Milliarden bereit. Warum sind die Kommunen trotzdem besorgt?
Das hört sich nach viel Geld an. Wenn man es herunterbricht auf die Länder – Niedersachsen bekommt immer acht bis zehn Prozent davon – ist es schon bedeutend weniger. Und wenn man dann auch weiß, dass ein Klassenraum um die 300.000 Euro kostet, relativiert sich die Summe schon. Dazu kommt: Betreuungskräfte sind rar. Hier haben wir Gehälter, die 3.000 bis 4.000 Euro brutto im Monat betragen. Was der Bund anbietet, ist dafür einfach zu wenig. Wenn der Bund den Ganztagsausbau aber als eigenes Ziel ausgibt, dann gilt das Motto: Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen. Wenigstens sollte der Bund sich mit den Ländern verständigen.

Im Moment sieht es so aus, als ob mindestens ein Drittel der Kosten bei den Kommunen hängen bleibt. Das können wir aber nicht bezahlen. Kinderbetreuung ist Teil der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik und somit eine gesamtstaatliche Aufgabe. Deshalb sind wir Kommunen auf der Zinne und sagen: Lieber Bund, so geht es nicht! Übrigens sitzen wir bei der Debatte nicht mit am Tisch. Das wird alles zwischen Bund und Ländern verhandelt. Und wir befürchten, gerade nach der Pandemie, dass die Länder spitze Finger haben werden, wenn es ums Geld geht.

Eigentlich sind die Bundesländer für die Bildungspolitik zuständig. Manche haben bereits jetzt eine gute Betreuungsstruktur. Andere haben das Thema Ganztagsschule bisher kaum angepackt. Ist es legitim zu fordern, dass diese Länder den Ausbau auch aus eigenen Mitteln finanzieren?
Es gibt ärmere und reichere Länder. Grundsätzlich muss sich der Bund dazu mit den Ländern verständigen. Wir wollen als Kommunen nur nicht am Ende die Zeche für den Ganztagsausbau bezahlen. Entweder übernimmt das der Bund, oder wir werden diesen Weg – etwas langsamer – mit den Ländern gehen. In Ansätzen ist schon jetzt jede Kommune dabei. Übrigens gilt das auch für andere Aufgaben: Wir müssen die Kita-Betreuung noch weiter ausbauen und die Schulen weiter digitalisieren. Auch da gibt der Bund nur einen Teil von dem Geld, das wir eigentlich benötigen. Am Ende müssen oft die Kommunen den Rest finanzieren. Deshalb reagieren wir zunehmend allergisch, wenn Minister und Ministerinnen sich hinstellen und sagen: „Wir haben dafür gesorgt, ...“

Was passiert denn genau, wenn der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung kommt, die Kommunen das aber finanziell gar nicht umsetzen können? Müssen die Städte und Gemeinden mit Klagen rechnen?
Es gilt das Konnexitätsprinzip. Grundsätzlich kann man den Bund verklagen, wenn er eine Aufgabe festsetzt, die wir übernehmen müssen. Als Kommunen können wir das allerdings nur gegenüber den Ländern geltend machen. Klar ist: Ohne entsprechendes Geld können wir den Ausbau nicht in allen Kommunen so vorantreiben, wie es gewünscht ist, weil wir teilweise auch in Haushaltsnotlagen sind.

Wie realistisch ist der Zeitplan? Ab 2026 soll der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für die ersten Klassen gelten. In den kommenden drei Jahren soll dann jeweils eine Klassenstufe dazukommen.
Grundsätzlich ist das machbar, weil wir ja nicht bei Null anfangen und es in vielen Kommunen schon gute Ganztagsangebote gibt. Ein Problem sind die Baulichkeiten, die man entweder nicht hat oder die wir aus bürokratischen Gründen nicht voll nutzen können. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass wir einen Raum nicht doppelt nutzen können, erst für die Schule und dann für die Nachmittagsbetreuung.

Das noch größere Problem ist das Personal. Wir haben bereits große Schwierigkeiten, Personal für Kitas und Krippen zu finden. Jetzt werden in einigen Ländern die dritten Kräfte eingeführt und die Gruppengrößen verkleinert. Diesen Bedarf können wir schon nicht decken.

Sie sind Präsident der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände. Was muss jetzt getan werden, damit die Kommunen genügend Fachkräfte finden?
Wir sind mit Verdi in der Diskussion, wie wir die Erzieherausbildung neu ordnen. Wir bräuchten ein Bundesausbildungsgesetz für den Erzieherberuf, wie man es auch für die Pflege gemacht hat. Das müsste der Bund einheitlich regeln, denn bis sich die 16 Länder auf einen Standard geeinigt haben, ist Weihnachten 2040.

Wir Kommunen wollen eine Grundausbildung von drei Jahren, kombiniert mit einer Weiterbildungsmoöglichkeit von nochmal einem Jahr innerhalb der nächsten zehn Jahre. Verdi will gleich vier Jahre am Stück – da streiten wir noch. Ich meine, wir brauchen dringend Seiteneinsteigerprogramme. So könnte man auch den Fachkräftemangel etwas abmildern. Im Moment geben wir Kommunen viel Geld für Stellenanzeigen aus und ringen um die wenigen Leute, die mit ihrer Ausbildung fertigwerden.

Wie steht es um die notwendigen Grundstücke und Immobilien? Müssen die bestehenden Schulen ausgebaut werden und gibt es in den Kommunen dafür genug Flächen?
In den meisten Fällen, wenn man ältere Schulen hat, hat man auch genügend Fläche ringsherum und kann die Gebäude aufstocken oder erweitern. Natürlich geht das nicht immer – etwa in einigen Innenstadtbereichen oder wenn der Denkmalschutz den Ausbau behindert. In den Wachstumsstädten sind wir sowieso dabei die Schulen auszubauen, weil wir aufgrund der Zuwanderung mehr Kinder in den Grundschulen haben. Das lässt sich regeln, aber dazu bedarf es Bebauungsverfahren. Und letztlich kostet wie gesagt jeder Raum um die 300.000 Euro. Zusammengefasst: Am Ende hängt es an der Finanzierung. Der Rest ist machbar.

Der Bundesrat wird Ende Juni über den Ganztagsausbau beraten. Was erwarten Sie, wie es jetzt weitergeht?
Wenn die Finanzierung nicht gesichert ist, fordern wir Kommunen die Länder auf nicht zuzustimmen oder in den Vermittlungsausschuss zu gehen. Ansonsten wären die Länder die Zahlmeister, und sie könnten uns Kommunen bei fehlender Finanzierung auch nicht zwingen den Ganztags-Rechtsanspruch umzusetzen.

Sie sind Oberbürgermeister von Lüneburg. Welches der genannten Probleme bereitet Ihnen denn hier am meisten Sorgen?
Im Moment besorgt mich, dass wir nicht umsetzen können, was wir an Infrastruktur schaffen müssen – das reicht von den Schulen bis zur Digitalisierung. Uns fehlen Fachkräfte. Und bei Ausschreibungen müssen wir bürokratische Vorschriften einhalten, die uns langsam machen. Deshalb können wir nur 40 Prozent unseres Investitionsvolumens jährlich umsetzen. Wir sind überbürokratisiert und müssen sehen, wie wir das beschleunigen.

Zur Person

Ulrich Mädge (SPD) ist Oberbürgermeister der Hansestadt Lüneburg, Präsident des Niedersächsischen Städtetages sowie Präsident der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA).

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