Ein Rückblick

Von der Daseinssorge zur Daseinsvorsorge? Umweltpolitik in der kommunalen Ratgeberliteratur

Dr. Peter-Georg Albrecht13. Juli 2021
Dr. Peter-Georg Albrecht
Querschnittsthema Nachhaltige Entwicklung? Fehlanzeige! Stattdessen finanzielle Sorgen, nur wenig Umweltbewusstsein und Abwehr von Zumutungen anderer politischer Ebenen. Unser Autor erinnert sich an die Schwerpunktsetzungen und Begriffsverständnisse, die in Sachen Umweltpolitik noch vor zehn Jahren die Ratgeberliteratur für Kommunalpolitiker*innen und Kommunalverwaltungsmitarbeiter*innen dominierten.

Der Autor Dr. Peter-Georg Albrecht ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Die Bertelsmann Stiftung meldete sich vor zehn Jahren sowohl mit einer Diagnose „Städte in Not“ als auch mit „Grundsätzen und Strategien für eine zeitgemäße Kommunalpolitik“ zu Wort. In ihren Diskursbeiträgen empfahl sie zwar, sich „gemeinsam Richtung Nachhaltigkeit“ aufzumachen, verwies dabei aber ausschließlich auf „Fehler im System der Gemeindefinanzierung“ und mahnte die Konsolidierung, Sicherung und Stärkung der kommunalen Finanzpolitik an. (1) Kommunale Umweltpolitik existierte nicht als Zukunftspfad: Unter „Gestaltung des Lebensumfeldes“ wurde ausschließlich die Gestaltung kommunaler Gesundheitspolitik verstanden. „Lebensqualität vor Ort nachhaltig zu sichern“ bedeutete für die Bertelsmann Stiftung zu dieser Zeit, „Familie möglich zu machen“ und „die Herausforderung“ des „demografischen Wandels“ anzugehen, weil ihres Erachtens das in „die Zukunft“ wies. (2)

Landesspezifische Ratgeber, Handlungsempfehlungen und Lehrbücher

Das „Handbuch Kommunalpolitik“ für Kommunalpolitiker*nnen und Verwartungsmitarbeiter*nnen in Baden-Württemberg sah als Problem ebenfalls zunächst nur sinkende „Sachinvestitionen“ und Investitionsmöglichkeiten und zum Teil nur sehr geringe „Kostendeckungsgrade“ (auch in der kommunalen Abwasser- und Abfallbeseitigung sowie der Straßenreinigung). Es empfahl als Lösung aber vor allem ein „Konnexitätsprinzip“ zwischen Kommunal-, Landes- und Bundespolitik, nach welchem der „bezahlen muss, der bestellt“; ein Prinzip, das auch Umweltschutz und Umweltpolitik kaum zutreffen kann, da die Verursacher – wissenschaftlich gesehen – entweder alle oder – diskursiv – immer andere sind, aber nicht die Politiker anderer politischer Selbstverwaltungsebenen im föderalen Staat. (3)

Ein ähnliches an die bayrischen Kommunalpolitiker*nnen und Verwaltungsmitarbeiter*innen adressiertes Buch kannte ebenfalls noch keine umweltbezogene kommunale Nachhaltigkeit. Ausschließlich einmal erwähnt wurde die „Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie“ und die „Vorgabe der Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten“, durch die die „Gestaltungsmöglichkeiten der Landesparlamente in der Abweichungsgesetzgebung“ (als „konkurrierende Gesetzgebung“) „durch bestehende europäische Regelungen erheblich eingeschränkt werden“. Kritisch sahen die Autor*innen die damals aktuelle Bundesgesetzgebung für den Nichtraucherschutz, die mit der bayrischen Praxis und dem bayrischen Landesrecht konkurrierte. (4)

Selbst das damalige „Berliner kommunalpolitische Lexikon” sah „Daseinsvorsorge“ zu dieser Zeit nicht als Vorsorge, sondern als kommunale Aufgabe zur „Bereitstellung der für ein sinnvolles menschliches Dasein notwendigen Güter und Leistungen“, als „sogenannte Grundversorgung“. „Vorausschauende“ „Aussagen über die Tragfähigkeit der Infrastrukturen für die Zukunft“ wurden ausschließlich aufgrund des demografischen Wandels getroffen, weil so der „künftige Bedarf bewertet, und damit nicht am langfristigen Bedarf vorbei gefördert oder gebaut wird“. Erwähnung fand die „Umweltverträglichkeitsprüfung“ (UVP) als selbstverständliches gesetzlich vorgesehenes Prüfverfahren, „mit dem die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen von Vorhaben bestimmten Ausmaßes auf die Umwelt im Vorfeld der Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens festgestellt, beschrieben und bewertet werden“ muss. All dem war Berlin aufgrund der Erklärung des Berliner Abgeordnetenhauses im Jahre 2006 verpflichtet, in der Berlin die an die Lokale Agenda 21 der UNO von 1992 angelehnte „‚Agenda 21 Berlin‘ zur Leitidee der künftigen Berliner Landespolitik“ erhob. (5)

Ratgeber, Handlungsempfehlungen und Lehrbücher ohne Regionalbezug

Wissenschaftliche Ratgeber, Handlungsempfehlungen und Lehrbücher, die sich an alle Kommunalpolitiker*innen und Kommunalverwaltungsmitarbeiter*innen in Deutschland wandten, zeigten vor zehn Jahren ebenfalls, dass die kommunale „Umweltverträglichkeitsprüfung“ dazu dient, zu prüfen, wie sich ein „geplantes Vorhaben auf die Umwelt auswirkt“; durch „Scoping (frühzeitige Einbeziehung und gegenseitige Abstimmung der Träger und Behörden öffentlicher Belange)“, „Monitoring“ und „Umweltbericht“. Definiert wurde, dass die kommunale „Daseinsvorsorge“ kompensierend dazu dient „die Grundbedürfnisse der Bevölkerung vor Ort” zu befriedigen, während Begriffe wie kommunaler Umweltschutz, kommunale Umweltpolitik oder Gesundheitspolitik und nachhaltige Entwicklung fehlten. (6)

Schwerpunkte und Begriffsverständnisse

Umweltpolitische Empfehlungen für Kommunalpolitiker*innen haben sich in den letzten zehn Jahren deutlich gewandelt: Zunächst waren die Diagnosen und Empfehlungen in Anlehnung an die kommunalpolitischen Diskussionen der 1990er und 2000er Jahre noch von der Sorge um die nicht-nachhaltigen Finanzausgleiche zwischen Kommunen, Ländern und Bund geprägt. Umwelt- und Zukunftsthemen waren allenfalls standortattraktivitätssteigernde Gesundheitspolitik und demografisch begründete Familienpolitik.

Ähnliche Töne fanden sich auch in den kommunalpolitischen Empfehlungen der Bundesländer: Das Baden-Württembergsche Handbuch problematisierte die nicht-kostendeckenden und erst recht nicht nachhaltigen Kostendeckungsgrade der kommunalen Abwasser- und Abfallbeseitigung und Straßenreinigung und empfahl Kommunalpolitikern, dafür zu kämpfen, dass Länder, Bund und EU bezahlen, was sie „bestellen“. Bayern erlaubte sich zu dieser Zeit (als Freistaat), Umweltschutz in Form der Schutzgebiete ausweisenden Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie als Zumutung der EU und bspw. die gesundheitsbezogenen Nichtraucherschutzgesetzgebungen als Zumutung des Bundes zu geißeln.

Berlin war bereits weiter: Wenngleich Daseinsvorsorge auch noch als Grundversorgungsprinzip für Benachteiligte galt und die Tragfähigkeit von Entscheidungen vor allem im Blick auf demografische Veränderungen geprüft wurden, hatte die Umweltverträglichkeitsprüfung nun allerdings einen bedeutenden Platz und wurde sich insgesamt an der Agenda 21 orientiert. Ratgeber, Lehrbücher und Nachschlagewerke für Kommunalpolitiker aller Bundesländer empfahlen die Umweltverträglichkeitsprüfung, hielten aber die Daseinsvorsorge weiterhin für eine kompensative Ausgleichsanforderung und kein Zukunftsprinzip.

 

Zitierte Literatur in der Reihenfolge ihrer Besprechung:

(1) Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2013). Städte in Not. Wege aus der Schuldenfalle? Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Darin: Grabow, Bussow, & Schneider, Stefan (2013). Nur gemeinsam: Nachhaltige kommunale Finanzpolitik und nachhaltige Infrastrukturplanung. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Städte in Not. Wege aus der Schuldenfalle? (S. 309-329). Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. S. 326, 320ff.
(2) Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2010). Kommunen schaffen Zukunft. Grundsätze und Strategien für eine zeitgemäße Kommunalpolitik. 2. Auflage. 1. Auflage 2008. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. S. 48-50, 43, 44.
(3) Frech, Siegried, & Weber, Reinhold (Hrsg.). (2009). Handbuch Kommunalpolitik. Politik in Baden-Württemberg. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. Darin: Weiblen, Willi (2009). Kommunale Finanzpolitik. In: S. Frech & R. Weber (Hrsg.), Handbuch Kommunalpolitik. Politik in Baden-Württemberg. (S. 132-172). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. S. 168, 157, 136-138.
(4) Laufer, Heinz, & Münch, Ursula (2010). Das föderale System der Bundesrepublik Deutschland. München: Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. S. 128, 130.
(5) Oel, Hans-Ulrich, Przesang, Norbert A., Thamm, Rainer (2008). Berliner kommunalpolitisches Lexikon. Berlin: Network Media Verlag. S. 57, 59, 181, 128.
(6) Günther, Albert, & Beckmann, Edmund (2008). Kommunal-Lexikon. Basiswissen Kommunalrecht und Kommunalpolitik. Stuttgart: Richard Booberg Verlag. S. 153, 50.

Dr. Peter-Georg Albrecht Er forscht derzeit zu „Nachhaltigem Leben und Demokratiestärkung“; gefördert durch das Bundesprogramm „Demokratie leben“ und die „Partnerschaft für Demokratie“ der Landeshauptstadt Magdeburg.