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Was im Kampf gegen Zwangsehen getan werden muss

Franziska Giffey09. November 2016
Die Zahl von Mädchen, die zwangsverheiratet werden, nimmt weltweit zu. Davor warnt die Organisation „Save the Children“. Auch in Deutschland gibt es jedes Jahr einige Tausend Fälle – für Neuköllns Bürgermeisterin Franziska Giffey eine neue Form der Sklaverei.

Zum Ende des Schuljahres habe ich wie in den vergangenen Jahren wieder einen Brief an jede unserer sechzig Schulen im Bezirk geschrieben. Der Inhalt: Was können Schulleitung, Lehrkräfte und Sozialarbeiter tun, wenn eine Schülerin oder ein Schüler Angst hat, im Ausland gegen den eigenen Willen verheiratet zu werden.

400 Zwangsverheiratungen in Berlin pro Jahr

Mich erschüttert es immer wieder, dass es im 21.Jahrhundert in der deutschen Hauptstadt Berlin notwendig ist, einen solchen Brief zu schreiben – dass es Mädchen (aber auch Jungen) unter uns gibt, für die ein selbstbestimmtes Leben nicht selbstverständlich ist. Dabei sind die meisten der Betroffenen in Deutschland aufgewachsen.

In Berlin arbeiten wir mit einer geschätzten Zahl von 400 Fällen von Zwangsverheiratung pro Jahr, bundesweit ermittelte die erste und bislang einzige Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für das Jahr 2008 3443 Fälle von angedrohter oder vollzogener Zwangsverheiratung. 94 Prozent der Betroffenen sind weiblich, ein Großteil zwischen 16 und 25 Jahren alt, die meisten haben ihre Wurzeln in der Türkei oder in arabischen Ländern, aber auch in Südosteuropa, Asien und Afrika.

Von der Schadensbegrenzung hin zur Prävention

Im Neuköllner Rollbergviertel gibt es das geflügelte Wort: „Hier sucht sich kein Mädchen ihren Mann alleine aus.“ Es gibt Brautgelder, Absprachen auf dem Heiratsmarkt und es gibt Mädchen, die von klein auf darauf vorbereitet werden, dass die Familie den Ehepartner aussuchen wird. Betrachtet man den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema, wird deutlich, dass im Zentrum vieler Bemühungen der Schutz, die Beratung, die Hilfe und die Unterstützung der Opfer stehen.

Doch das allein reicht nicht. Wir müssen uns auch fragen: Wie können wir den Ursachen begegnen, wie kann ein Umdenken in den Familienstrukturen erreicht werden? Das ist die schwierigste Aufgabe, denn die tradierten Denk- und Rollenmuster sind oft derart verfestigt, dass es in vielen Fällen nahezu unmöglich scheint, sie aufzubrechen.

Kinderehen müssen verboten werden

Es gibt die rechtliche Seite. Kinderehen sind nicht zu tolerieren, sie müssen verboten werden. Das Mindestheiratsalter in Deutschland muss ausnahmslos auf 18 Jahre festgelegt sein. Im Ausland geschlossene Ehen mit Minderjährigen dürfen in Deutschland nicht anerkannt werden. Auch der Zwang zum Eingehen einer eheähnlichen Verbindung – also einer religiösen Eheschließung – muss wie die Zwangsheirat unter Strafe gestellt werden.

Durch das neue Personenstandsgesetz, das 2009 in Kraft trat, ist die religiöse Voraustrauung zweier Menschen nicht mehr verboten. Dies begünstigt sowohl Zwangs- und Mehrfachehen wie auch Kinderehen. Die Forderung, religiöse Eheschließungen wie zuvor nur nach standesamtlicher Eheschließung zu gestatten, ist richtig und wichtig.

Die Familien in die Pflicht nehmen

Und es gibt eine gesellschaftspolitische Seite. Ich bin der Überzeugung, dass wir die Fallzahlen nur senken können, wenn wir Autoritätspersonen aus dem direkten Umfeld der Familien gewinnen. Wenn Menschen, deren Wort in den entsprechenden sozialen und religiösen Kreisen etwas gilt, sich gegen Zwangsheirat und arrangierte Ehen einsetzen, ist das ein wichtiges und starkes Signal.

Das bedeutet, dass ein Weg auch sein kann, die Imame in den Moscheen einzubinden, die ein hohes Maß an Autorität besitzen. Dass es für diesen Weg einen langen Atem braucht, habe ich selbst im letzten Jahr erfahren: Auf meine Einladung an alle 21 Neuköllner Moscheen, sich an einer Kampagne des Bezirks gegen Zwangsheirat und für die freie Partnerwahl zu beteiligen, habe ich nur sechs Rückmeldungen erhalten.

Veränderungen Schritt für Schritt

Wir dürfen uns aber nicht entmutigen lassen. All denjenigen, die sagen, dass das aussichtslos wäre, müssen wir entgegenhalten, dass es auch in Deutschland Zeiten gab, in denen Frauen weder das Wahlrecht hatten, noch das Recht, ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes eine Arbeit aufzunehmen und dass Vergewaltigung in der Ehe erst Ende der 1990er Jahre unter Strafe gestellt wurde. Es ist möglich, dass sich etwas ändert, aber nur Schritt für Schritt.

Dafür ist es erforderlich, mit unnachgiebiger Hartnäckigkeit immer und immer wieder dieses schwierige Thema anzusprechen – auch und vor allem dort, wo unsere „Einmischung“ nicht auf Gegenliebe stößt. Wir müssen die Familien direkt in die Pflicht nehmen, sie nicht einfach sich selbst überlassen. Wir müssen immer wieder deutlich machen, dass die Rechte, die im deutschen Grundgesetz verankert sind, für alle gelten, die in Deutschland leben. Zwangsheirat ist nicht kulturbedingt zu tolerieren, sie ist als moderne Form der Sklaverei zu ächten.

Der Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung von vorwärts.de