Blog Meine Sicht

Warum wir die kommunale Verkehrswende brauchen

Prof. Dr. Ulrich Ellinghaus07. September 2020
Autos auf einem Parkplatz (Symbolfoto)
Weil Parkflächen knapp waren, hat Wettenberg mehr Stellplätze geschaffen – doch das Problem blieb bestehen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Ulrich Ellinghaus wirbt nun für den umgekehrten Ansatz: Stellplatzsatzungen sollten abgeschafft, Ortskerne vom Autoverkehr befreit werden.

Die Gemeinde Wettenberg im Kreis Gießen ist erst 41 Jahre alt, aber die drei historischen Ortschaften, aus denen sie sich zusammensetzt, haben ihre Wurzeln im Mittelalter, und das imposante Wahrzeichen Wettenbergs, die Burg Gleiberg, kann auf eine inzwischen eintausendjährige Geschichte zurückblicken. Wie viele ähnlich gewachsene Orte Hessens ist der Parkraum in den kleinen Gassen unserer Ortskerne knapp und die ­Bewohner ächzen unter der Last des Individualverkehrs, zu dem sie in nicht geringem Maße selbst beitragen.

Denn die Wettenberger – wie ­alle Deutschen – fahren immer mehr Auto(s). So schien auch in Wettenberg die Antwort klar zu sein: Wir brauchen mehr Parkraum, wollen wir den Verkehrskollaps vermeiden. Dementsprechend haben wir vor gerade einmal zwei Jahren die Mindestzahl der Stellplätze pro Wohnung von 1,5 (halbe Stellplätze ­waren aufzurunden) auf zwei erhöht.

Angebot schafft Nachfrage

Aber war das wirklich eine gute Idee? Die Meinungen werden immer lauter, die die autogerechte Stadt im Grundsatz kritisieren und ein radikales Umdenken fordern. Doch wo liegen die Alternativen, insbesondere in Anbetracht gewachsener Strukturen, die bei jeder Planung und Neuorientierung zu berücksichtigen sind? Kann es eine Lösung sein, einfach den Spieß umzudrehen und Stellplätze nicht zu fordern, sondern zu verbieten, um auf diese Weise die Ortskerne für den Individualverkehr unattraktiver zu machen und andere Mobilitätsformen zu fördern?

Die Hochschule RheinMain hat kürzlich in einem SGK-Webinar zur „Zukunft der Mobilität“ auf den Zusammenhang zwischen Stellplatzangebot und Verkehrsmittelwahl hingewiesen: Je mehr Stellplätze vorhanden sind und je höher das Einkommen ist, umso mehr Fahrzeuge umfasst der jeweilige private Fuhrpark.

Trotz Stellplatzflut bleibt Parkraum knapp

Aber werden die vielen privaten Stellplätze überhaupt genutzt? Nur, wenn es nicht anders geht. Denn der Stellplatz auf dem eigenen Grundstück wird nach Möglichkeit freigehalten. Stattdessen parken Stellplatzinhaber ihre Fahrzeuge lieber auf nahegelegenen öffentlichen Parkplätzen. Die beabsichtigte Steuerungswirkung bleibt auf diese Weise aus, der Parkraum wird noch knapper. Dieselbe Untersuchung ergab für ein Wohnviertel in Darmstadt, dass zwei Drittel der üblicherweise auf der Straße geparkten Pkw Anwohnern gehörten und genauso gut auch auf den jeweiligen Grundstücken ihrer Halter Platz finden könnten.

Das Ortsbild leidet unter der Stellplatzflut: Gerade im Ortskern wirkt sich das gemeindliche Gebot, viele Stellplätze zu schaffen, nachteilig auf die Gestaltung des ganzen Viertels aus: Wo teure Tiefgaragenplätze keine Option sind, müssen sämtliche auf dem Grundstück vorhandenen Freiflächen „vollgepflastert“ werden. Anstatt kommunikationsfördernder Begegnungsplätze entsteht auf diesen wertvollen „Potenzialflächen“ nur kontaktverhindernder Parkraum. Weiterer Nachteil von Stellplätzen auf dem privaten Grundstück: Sie werden naturgemäß nur von ihren „Eigentümern“ genutzt und bleiben ansonsten leer, selbst wenn im öffentlichen Raum die Parkplätze fehlen. Nur Nachteile also.

Automobile „Machtverhältnisse” umkehren

Wie lässt sich diesem Dilemma begegnen? Eine echte Verkehrswende und damit der Abschied von der autogerechten Stadt lässt sich nur durch einschneidende Maßnahmen erreichen, die geeignet sein müssen, die Wohnquartiere in den Ortskernen zugunsten anderer Transport­alternativen weitestgehend vom Autoverkehr freizuhalten. Wesentliche Instrumente hierzu sind die Umwandlung von Gemeindestraßen in „verkehrsberuhigte Bereiche“ (Verkehrszeichen 325.1) oder in Tempo-30-Zonen und die Anordnung von Tempo 30 für Straßen des örtlichen Verkehrs sowie „verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche“ als innerörtliche Höchstgeschwindigkeit (§ 45 Abs. 1c, 1d StVO). Auch die aktive Steuerung des Angebots an öffentlichen und privaten Parkplätzen ist ein weiterer wichtiger Baustein zur Umkehrung der automobilen „Machtverhältnisse“.

Gleichzeitig müssen die sonstigen Verkehrsträger aufgewertet werden, z. B. durch Verbesserung der Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr und Einrichtung attraktiver Fahrrad- und Fußwege auf dem eingesparten Straßenraum. So kann die Attraktivität des Linienverkehrs durch bedarfsgesteuerte Poolingdienste, wie sie das Eckpunktepapier zur Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes nun vorsieht, durch kürzere Taktzeiten und die Einführung von Jobtickets weiter erhöht werden. Schließlich gewinnt das (elektrifizierte) Fahrrad im täglichen Leben immer mehr an Bedeutung, und selbst der steile ­Gleiberg hat in Zeiten der E-Bikes auch für Untrainierte seine Schrecken verloren. Zentrale Fahrrad-Leihstationen können ein Übriges tun, um die „letzte Meile“ zwischen Wohn- oder Arbeitsstätte und Bahn- oder Bushaltestelle zu überwinden. Wenn diese Maßnahmen greifen, kann der Ortskern soweit wie möglich vom automobilen Individualverkehr befreit werden, z. B. indem Gemeinschaftsparkflächen an zentraler Stelle am Quartiersrand ­geschaffen werden.

Überzeugungsarbeit nötig

Und was heißt das für Wettenberg? Unsere erst vor zwei Jahren novellierte Stellplatzsatzung scheint im Zeitraffer gealtert zu sein. In der Zwischenzeit hat uns die Verkehrswende über Nacht links überholt. Viele Versuche einer Neuorientierung bleiben allerdings noch im Zaghaften stecken; ein Schicksal, das auch die „Nahmobilitäts-Initiative“ der schwarz-grünen hessischen Landesregierung ereilt hat.

Wollen wir die Verkehrswende in unseren Kommunen umsetzen, müssen wir zunächst einmal die eigenen Genoss*innen und dann die Bürger*innen mitnehmen. Die Hauptaufgabe für erfolgreiche Kommunalpolitik wird daher in den kommenden Jahren darin bestehen, vor Ort die nötige Überzeugungsarbeit zu leisten, um die verschiedenen kommunalen Akteure und Interessengruppen unter einen Hut zu bekommen. Das kann nur gelingen, wenn wir – mit fachlicher Unterstützung – überzeugende Lösungen anbieten, die Bürgerschaft frühzeitig und umfassend einbeziehen und offen bleiben auch für unkonventionelle Vorschläge.

 

Dieser Text wurde zuerst im Landes-SGK EXTRA Hessen der DEMO veröffentlicht und erscheint mit freundlicher Genehmigung der SGK Hessen. Im Blog „Meine Sicht” schreiben wechselnde Autoren aus persönlicher Perspektive über kommunale Themen.